Ländlich-deftige Gerichte geben den Ton an auf den Tischen zwischen Wizebsk, Hrodna, Brest und Homel. Im Mittelpunkt der belarussischen Küche steht die Kartoffel. Nirgends auf der Welt wird mehr davon gegessen als in Weißrussland.

Zwölf saftig frisch geriebene Kartoffeln, eine Zwiebel, Salz. Mehr ist es nicht, was Anton Kusnetzow – gut verrührt – mit einem breiten Löffel in das siedend heiße Öl gibt. Erst zischend und dann heftig prasselnd, verwandelt das den hellen Brei im Nu zu goldbraun-gelben Knuspertalern. „So einfach macht man Draniki“, frohlockt der weißrussische Pensionär. Kartoffelpuffer, so ihr deutscher Name, sind das Nationalgericht in Belarus.
Einst Lehrer in der Hauptstadt Minsk, genießt der heute 67-Jährige die Ruhe „auf dem Land“, erfreut sich der Natur und ihrer Gaben, aus denen er tagtäglich – meistens für sich ganz allein – ganz schlichte, doch stets köstliche Gerichte zaubert. Oft fährt er zum Angeln an die Memel, die auf Belarussisch Njoman heißt und sich nur zehn Kilometer von seinem Wohnort Mir durch Wald und Wiesen schlängelt. Der Fluss, der in einem breiten Delta zwischen der litauischen Hafenstadt Klaipeda (deutsch: Memel) und dem Kaliningrader Gebiet ins Kurische Haff mündet, entspringt rund eine Autostunde weiter östlich im Weißrussischen Höhenrücken. „Hier ist der Fluss noch sauber. Den Fischen darin geht es gut“, sagt Anton Kusnetzow. Sein letzter Fang zwei Tage zuvor war eine stramme Plötze. Zwei braun gebratene Buletten daraus stehen noch im Kühlschrank.
Knoblauch, Kümmel und Koriander

Vorm Küchenfenster seines bäuerlichen Häuschens reckt sich das Schloss von Mir mit seinen eckigen rot-weißen Türmen in den Himmel über Belarus. Wie eine Wandtapete klebt die riesenhafte Märchenburg am Horizont der Kleinstadt nahe Minsk. „Als das Land noch Litauer und Polen lenkten, residierten darin die katholischen Radziwiłł-Fürsten. Die Kleinadligen waren protestantisch, die Bauern orthodox, einige darunter, die Tataren, auch muslimisch. In allen Städten lebten Juden, in Mir besonders viele. Und jede Schicht und jede Religionsgemeinschaft kochte anders. Dazu kamen noch die regionalen Unterschiede“, erklärt der Belarusse. So vielgesichtig die Gesellschaft immer war, so bunt ist heute ihre Küche. „Tonangebend sind ländlich-deftige Gerichte“, sagt der Hobbykoch. Typisch seien gedünstetes und überbackenes Schweinefleisch mit Pilzen und Gemüse, Räucherspeck und hausgemachte Würstchen, sauer marinierte und gesalzte Gurken, Kohl und Kürbis.

Ebenso beliebt sind Buchweizen – den man etwa zu Kascha (Grützbrei) und Risotto oder Lasanki (Plattenpasta à la Lasagne) verarbeitet – sowie Pilze aus dem Wald, die man trocknet und zermahlt, um damit Suppen oder Soßen wirksam aufzupeppen. Dazu dienen gleichfalls wilde Kräuter sowie Dill und Petersilie aus dem Garten. Als Gewürze schätzt die belarussische Küche in erster Linie Knoblauch, Kümmel, Koriander. Vor allem Butter, Schweineschmalz und Sauerrahm sorgen dafür, dass fast jedes Mahl sein Fett abbekommt.
Für süße Speisen, meistens Backwerk, nutzt man neben Äpfeln und Birnen gern Beeren aus dem Garten oder Wald. „Kompott“ – in Zuckerwasser gekochtes Obst – ist eher ein Getränk als ein Dessert und wird deshalb in Gläsern oder Tassen angeboten. In der Popularität kommt es bei den Belarussen gleich nach Kwas, das aus vergorenem Brot gewonnen wird. In Farbe und Geschmack ähnelt es dem Malzbier. Nur ist es etwas säuerlicher und nicht so süß. Die Nummer eins auf der Beliebtheitsskala einheimischer Lebensmittel ist mit Abstand die Kartoffel. Jeweils pro Kopf und Jahr werden mehr als 630 Kilogramm erzeugt und sage und schreibe 185 (in Deutschland 55) Kilogramm verspeist. Damit hält Weißrussland gleich zwei Weltrekorde. Und wohl keine andere Nation verarbeitet die edlen Knollen auf so vielfältige Weise.
Rezepte dazu hat man jede Menge. Mehr als 20 durchschnittlich soll jeder Belarusse kennen und regelmäßig nutzen. Da gibt es Kartoffelklöße und -rouladen (mit Gemüse, Fleisch und Speck gefüllt), Kartoffelwurst (mit Schweinehack), Kartoffelnudeln (die den Gnocchi ähnlich sind), Auflauf, Suppen, Salate und Püree.
Doch wie kommt diese Leidenschaft zustande? Für Anton Kusnetzow zum einen durch die Qualität. Die beruhe auf dem extrahohen Stärkeanteil, der sich aus günstigen Klima- und Bodenbedingungen ergebe, so der pensionierte Pädagoge. Als zweiten Grund nennt er die Geschichte. Dank weitsichtiger Agrarpolitik der Königlichen Republik Rzeczpospolita (ehemals Polen-Litauen) habe sich der Kartoffelanbau im Gebiet des heutigen Belarus, beginnend in der Region um Hrodna, schon früh und zügiger als anderswo entwickelt.

„Als man etwa in Russland noch mit Vorurteilen gegen den ‚Teufelsapfel‘ kämpfte, galt hier die aromatische und sättigende Knolle bereits als Grundnahrungsmittel und wurde von der belarussischen Landbevölkerung als ‚zweites Brot‘ verehrt“, erzählt der ehemalige Geschichtslehrer. Schon im 19. Jahrhundert waren Draniki mit Sauerrahm das meist verbreitete Frühstück. Heute sind sie Nationalgericht.
Ihrer geliebten Bulba (Kartoffel in der Landessprache), die wie Birke, Kornblume, Weißstorch und Wisent zu den nationalen Symbolen zählt, haben die Belarussen sogar eine eigene Hymne und – ebenso wie Iren, Peruaner und US-Amerikaner – einen landesweiten Feiertag (5. Juni) gewidmet. Der internationale Kartoffel-Ehrentag ist übrigens der 19. August.
Routiniert, doch würdevoll, hebt Anton Kusnetzow seine selbst gemachten Reibeküchlein aus der Pfanne. „Fang schon mal an“, rät er seinem Gast und schiebt ihm den Teller hin. Denn wie der Hausmann und Genießer weiß: „Heiß schmecken sie am besten.“ Und richtig: Das simple, unverfälschte Essen ist ein Hochgenuss. Der tatsächlich sehr kartoffelige aromatische Geschmack, hervorgehoben und effektvoll untermauert von der Zwiebel, kommt bestens ohne weitere Verbündete zurecht.
Es gibt unzählige Varianten

Und dennoch gibt es jede Menge Varianten – etwa mit Milch, Mehl oder Ei. Gesellt sich beispielsweise Käse oder Fleisch hinzu, gilt es hierzulande schon als anderes Gericht. Auch lassen sich die fertigen Kartoffelpuffer zusammen mit Karottenwürfeln, Zwiebelscheiben, Pilzen oder Würstchen wie auch dickem Rahm im Ofen überbacken.
Oder man gibt die rohe Masse direkt mit gebratenem Fleisch, Speck und Zwiebeln in die Röhre. Dieses Gericht heißt – genauso wie der Gugelhupf – Babka (Oma) und ist jüdischen Ursprungs. Variieren lässt sich der Kartoffelpuffer aber auch mit endlos vielen Beilagen und Soßen. Oder er dient selbst etwa alternativ zu Salzkartoffeln als sättigendes Nebenbei zu einem Hauptgang.
Vis-à-vis dem Mirer Schloss, im „Café Mirum“, gibt die Speisekarte eine Vorstellung davon, womit Draniki so alles schmecken können. Man serviert sie dort mit Hühnchen- oder Putenbrust, Rindfleisch und Pflaumen, Hering und Zwiebeln, Kürbis und Zucchini, Moos- oder Preiselbeeren … Der Gast aus Deutschland staunt. Der Belarusse amüsiert sich. „Probier’ zum Abendessen die Buchweizen-Kascha mit Pilzen“, empfiehlt er mit Kennermiene und freut sich, dass sein Rat spontan befolgt wird. So steht am Ende dieses wunderbareren Schlemmertages noch ein kartoffelfreies kulinarisches Erlebnis (siehe Rezept).