Vier Länder, sechs Universitäten, 135.000 Studierende, 30 grenzüberschreitende Studiengänge ergeben zusammen den grenzüberschreitenden Hochschulverbund „Universität der Großregion" (UniGR). Frédérique Seidel, Geschäftsführerin der UniGR, über die ehrgeizigen Pläne und über die Schwierigkeiten im Corona-Alltag.
Frau Seidel, online gut und schön, aber die Uni der Großregion soll vor allem interkulturelle Kompetenz vermitteln. Wie hat Corona den universitären Alltag verändert?
Das ist in der Tat ein schwieriges Unterfangen. Vorlesungen und Seminare mussten in kürzester Zeit auf Online-Veranstaltungen umgestellt werden. Neben den technischen Herausforderungen gab es zudem organisatorische Probleme, zum Beispiel waren zu Beginn der Pandemie im März und April in Deutschland Semesterferien und in Frankreich war Mitte der Vorlesungszeit. Die Grenzschließungen haben zudem einem ganz wichtigen Ziel der UniGR ein jähes Ende bereitet: die Mobilität unter Studierenden, Lehrpersonal, Wissenschaftlern und Praktikanten. Erst nach langen Verhandlungen und Gesprächen erhielten die Studenten den Grenzgängerstatus und durften so wieder die Grenze für ihr Studium überqueren. Auch unter sozialen Aspekten war es zu Beginn der Pandemie insbesondere für ausländische Studierende eine schwere Zeit. Teilweise hatten sie kein Geld, um in ihre Heimat zu fahren, oder es fehlte einfach an der IT-Ausstattung wie Laptops. Die Vermittlung interkultureller Kompetenzen, das Vernetzen untereinander und das Erlernen der Sprachen Deutsch und Französisch sind in dieser Zeit auf der Strecke geblieben.
Wie geht es weiter? Die Pandemie lässt in absehbarer Zukunft keine großen Zusammenkünfte zu.
Mit dem Start in das neue Studienjahr sind Vorlesungen weiterhin größtenteils online vorgesehen. Seminare in Kleinstgruppen sollen als Präsenzveranstaltung möglich sein. Alles hängt selbstverständlich von der weiteren Entwicklung des Infektionsgeschehens ab. Durch das verstärkte Online-Angebot besteht aber auch die Chance, dass mehr Studenten künftig an Vorlesungen an den jeweiligen Partnerunis teilnehmen, denn das können sie zum Beispiel von zu Hause aus tun.
Wir haben mit der HTW Saar rund 141.000 Studenten im UniGR-Netzwerk. Die können doch nicht alle kreuz und quer an irgendwelchen Seminaren und Vorlesungen an den ausländischen Partnerunis teilnehmen.
Alle an den sieben Hochschulen eingeschriebene Studenten haben gleichzeitig die Möglichkeit, den UniGR-Studierendenstatus zu bekommen. Er erlaubt ihnen, an Lehrveranstaltungen jenseits der Grenzen teilzunehmen, Prüfungen abzulegen, Bibliotheken und Mensen zu nutzen, ohne nochmals einen Sozialbeitrag zu zahlen. Wer sich für einen der derzeit existierenden 30 grenzüberschreitenden Bachelor- und Master-Studiengänge einschreibt, muss allerdings eine gewisse Zeit in den jeweiligen Ländern verbringen. Die Zugangsvoraussetzungen sind dabei unterschiedlich – verlangt werden zum Beispiel im Einzelfall eine Aufnahmeprüfung oder der Nachweis deutsch-französischer Sprachkenntnisse. Ganz neu ist jetzt das sogenannte „EurIdentity Certificate". Es soll die Europakompetenz aller Studierenden stärken.
Kommt vielleicht ein bisschen spät, da Europa in der Beliebtheitsskala nicht gerade oben steht. Aber trotzdem: Was steckt dahinter?
Die UniGR erarbeitet derzeit ein Zertifikat, um allen Studierenden an den jeweiligen Partnerunis Europa näherzubringen. Dieses setzt sich zusammen aus unterschiedlichen Seminaren zum Beispiel über die Geschichte, die Funktionsweise der europäischen Institutionen, Kultur oder die unterschiedlichen Rechtssysteme. Zunächst ist das Angebot freiwillig, soll aber in ein paar Jahren Pflicht für alle Studierenden der Partnerhochschulen werden. Das Zertifikat wird als Erasmus+-Projekt über drei Jahre mit rund 300.000 Euro gefördert.
Wie sieht die Zusammenarbeit im Bereich der Forschung zwischen den Partnerhochschulen aus?
Auf diesem Gebiet ist viel Neues geplant: Das UniGR-Center for Border Studies, sprich Grenzraumforschung, und das interdisziplinäre Zentrum UniGR-CIRKLA für das Themengebiet „Materialien und Metalle in einer Kreislaufwirtschaft". Das Center for Border Studies wird mit EU-Mitteln gefördert und erhält für die nächsten zwei Jahre weitere 600.000 Euro, somit bis 2022 insgesamt 2,6 Millionen Euro. Rund 80 Forscher arbeiten in 16 Disziplinen zusammen und bauen ein Netzwerk mit einer gemeinsamen virtuellen Forschungsinfrastruktur auf. Dazu zählen ein digitales Dokumentationszentrum mit aufbereiteten wissenschaftlichen Studien oder ein dreisprachiges Glossar Border Studies, alles übrigens auch zugänglich für die Öffentlichkeit.
Ein konkreter Nutzen entsteht zum Beispiel durch die Zusammenarbeit mit dem Luxemburger Ministerium zur Erstellung eines Raumentwicklungsplans. Der 2017 mit den ersten Studenten an den Start gegangene Master in Border Studies hat 2019 die ersten 15 Absolventen hervorgebracht, die allesamt sofort eine qualifizierte Anstellung bekommen haben. Übrigens gibt es in der Großregion zunehmend mehr Institutionen, die zweisprachige Absolventen mit interdisziplinären Studiengängen suchen.
Und was hat es mit dem zweiten Zentrum auf sich?
Ziel ist es, ein interdisziplinäres Zentrum für Materialien und Metalle in einer Kreislaufwirtschaft unter Einbeziehung von interessierten Unternehmen aufzubauen. Die Großregion hat eine gemeinsame industrielle Geschichte und somit eine starke gemeinsame Identität. Zurzeit erarbeiten wir eine Strategie mit sechs Arbeitsgruppen der Partnerhochschulen. Das betrifft technische und wirtschaftliche Bereiche genauso wie die Geisteswissenschaften. Kreislaufwirtschaft hat beispielsweise durchaus etwas mit Konsumverhalten zu tun, das betrifft also die Wirtschaftswissenschaften.
Außerdem klären wir parallel die Finanzierungsfragen, die in der grenzüberschreitenden Forschung leider nicht ganz einfach sind. Oftmals sind Fördertöpfe national beziehungsweise binational ausgestattet und selten multilateral. Die ersten Projekte soll es trotzdem 2021/22 geben, und daraus wollen wir auch Studiengänge entwickeln.
Von der europäischen Idee profitieren nicht nur die Universitäten mit ihrer Forschungslandschaft, den Studenten und Beschäftigten, sondern auch die Region mit ihren Unternehmen und Menschen.