Die Auswirkungen der Pandemie sind noch immer nicht komplett abzuschätzen. Derzeit steht meist der volkswirtschaftliche Aspekt im Fokus. Doch wie wirkt sich die Krankheit auf Heranwachsende aus? Dr. med. Nicole Töpfner, Fachärztin für Kinder- und Jugendmedizin, gibt Einsichten in Long Covid.
Frau Dr. Töpfner, gibt es eine konkrete Definition von Long Covid?
Es gibt unterschiedliche Definitionen. Was akzeptiert ist, ist, dass man innerhalb der ersten vier Wochen nach der Coronavirus-Infektion von Akut-Covid-19 spricht. Ab vier Wochen spricht man von Long Covid oder von fortwährend symptomatischer Covid-19 und ab zwölf Wochen vom Post-Covid-19-Syndrom. Man kennt Post-virale Syndrome durch andere Viren, zum Beispiel die Myalgische Enzephalomyelitis (ME) oder das chronische Müdigkeitssyndrom unter anderem nach Infektionen mit dem Epstein-Barr-Virus. Aber dass in einer Pandemie so viele Kinder und Jugendliche gleichzeitig von diesen neuen Virusinfektionen betroffen sind und einige von den vielen auch einen längeren Heilungsprozess durchlaufen, der normal ganz zügig funktioniert, und wenige dann sogar auch längerfristige Probleme nach dieser Virusinfektion entwickeln – das ist neu.
Wie stellt man denn Long Covid fest, wenn die Definition so schwer ist?
Das ist eine große Herausforderung. Es gibt unterschiedliche Symptom-Listungen, die abgefragt werden. Meistens sind ein oder zwei Symptome führend. Sicher muss gegeben sein, dass entweder ein positiver PCR-Test die vorausgegangene Coronavirus-Infektion bestätigt oder ein klinisch hochgradiger Verdacht vorliegt, zusammen mit einer positiven Antikörper-Antwort gegen das Coronavirus, die darauf hinweist, dass überhaupt eine Infektion stattgefunden hat. Natürlich können Symptome wie Kopfschmerzen oder auch Müdigkeit und Erschöpfung auch nach jedem anderen Virus auftreten oder auch gar nichts mit Corona zu tun haben.
Kann es sein, dass manche Eltern die Symptome ihrer Kinder vielleicht nicht ernst genug nehmen?
Ja, wobei das nicht schlimm ist. Letztendlich geht es primär darum, dass man den Heilungsprozess unterstützt. Und wenn das eine kurzzeitige Beschwerde-Symptomatik ist, die aber von allein wieder weggeht, ist das auch völlig in Ordnung. Es gibt ja bisher keine kausale Therapie für Long Covid bei Kindern und Jugendlichen, sondern es würde rein symptomatisch therapiert werden, bislang auch ärztlich.
Die Wahrscheinlichkeit für Kinder, nach einer Corona-Infektion an Long Covid zu erkranken, soll zwischen 0,38 und 10,3 Prozent liegen. Können Sie das bestätigen?
Initial war eine recht breite Spanne gemeldet, die allerersten Meldungen gingen ja sogar über 70 Prozent. Das ist in anderen Studien widerlegt worden, und kam gegebenenfalls dadurch, dass keine gesunden Kontrollpersonen als Vergleich einbezogen wurden und die Ergebnisse zum Teil auch nicht auf ärztlichen und prospektiven Evaluationen beruhten, sondern auf nachträglichen Befragungen. Insgesamt ist es so, dass anhand kontrollbasierter Studien derzeit von deutlich unter fünf Prozent auszugehen ist.
Die meisten Kinder und Jugendlichen, die Sie mit Long Covid behandelt haben: Hatten die nur milde und/oder gar keine Symptome?
Die allermeisten Kinder haben bei Akut-Covid-19 sehr milde oder zum Teil auch asymptomatische Verläufe. Die Kinder, die wir an der Uniklinik dann mit Verdacht auf Long Covid sehen, sind schon vorselektiert, weil wir natürlich nur die schwereren Verläufe sehen, die uns in die Ambulanzen von den niedergelassenen Kinderärzten zugewiesen werden. Die Kinderärzte betreuen und behandeln natürlich viele Kinder mit milden Verläufen erst mal allein. Wir sehen dann die, die eine weiterführende Therapie oder einen umfangreichen, differenzialdiagnostischen Ausschluss von anderen Ursachen erfordern.
Wie behandeln Sie Kinder und Jugendliche genau?
Wir machen eine umfangreiche Anamnese, also eine Befragung zu den Symptomen. Es gibt Kinder, bei denen stehen zum Beispiel Atembeschwerden bei Belastung im Vordergrund. Dann würde man abklären, ob andere Herz- oder Lungen-bedingte Ursachen infrage kommen oder ob es am ehesten Long Covid ist. Bei anderen stehen Kopfschmerzen im Vordergrund. Da würden neurologische Differenzialdiagnosen ausgeschlossen werden, und dann würde man eine Schmerztherapie empfehlen. Bei den Kindern und Jugendlichen, bei denen chronische Müdigkeit oder psychische Beschwerden im Vordergrund stehen, sehen wir die Kinder meist zusammen mit einer Psychologin, mit der wir gemeinsam evaluieren, ob die Symptome im psychologischen Erkrankungsspektrum liegen oder eher neurophysiologisch sind. Dann ist eine wichtige Entscheidung, ob man die Kinder animieren sollte, sich bestimmte Alltagsziele zu setzen und zum Beispiel per Tagebuch zu dokumentieren und ob sie bis zur individuellen Belastungsgrenze eventuell auch wieder Sport machen können.
Können denn die Kinder mit einer vollständigen Genesung rechnen?
In den allermeisten Fällen auf jeden Fall. Die sehr wenigen, bei denen Long Covid nicht vollständig wieder weggeht, müssen wahrscheinlich langfristig behandelt werden. Es gibt unterschiedliche Stellen, die daran forschen, wie man langzeitmäßig wirklich helfen und gegebenenfalls auch die Ursachen behandeln kann. Zum jetzigen Zeitpunkt gibt es überhaupt keinen Hinweis darauf, dass Long Covid für viele ein unlösbares Problem ist. Ja, wir versuchen Maßnahmen anzubieten und auch weiterzuentwickeln gegen die Beschwerden, die auftreten. Aber zum Glück werden die allermeisten Kinder auch von allein wieder gesund werden.
Wichtig ist abzugrenzen, dass Long Covid überhaupt nichts mit „PIMS/MIS-C" (Pediatric Inflammatory Multisystem Syndrome in children, eine plötzliche Überreaktion des Immunsystems nach einer Corona-Infektion; Anm. d. Red.) zu tun hat. Das ist ein hoch entzündliches Krankheitsbild. Die Kinder sind schwer krank und benötigen allermeistens auch eine stationäre Therapie, wenn nicht sogar eine auf der Intensivstation, und haben zum Teil schwere Herzprobleme oder schweres akutes Abdomen.
Was könnten Eltern bei Auffälligkeiten tun?
Gut beobachten und dann den Kinderärzten möglichst differenziert beschreiben, was sie als Symptom oder als Beschwerdebild sehen. Dann gemeinsam mit den Kinderärzten überlegen, ob man das medikamentös oder verhaltenstherapeutisch lösen kann. In den allermeisten Fällen löst sich das von allein oder durch eine symptomatische Therapie. Erst wenn die Beschwerden über zwölf Wochen gehen oder besonders schwer sind, sollte man gemeinsam mit dem Kinderarzt überlegen, ob noch weitere medizinische oder psychologische Unterstützung notwendig ist und gemeinsam darüber nachdenken, ob eine Überweisung in eine Long-Covid-Ambulanz und/oder auch eine Rehabilitation infrage kommen. Und letztendlich auch immer mit den Kinderärzten gemeinsam möglichst gute Lösungskonzepte für die Reduktion von Schul-Fehlzeiten entwickeln.