Erst Kontaktbeschränkungen und Schulschließungen, später Maskenpflicht und regelmäßige Testungen – die andauernde Corona-Problematik setzt jungen Menschen stark zu. Wie haben sich schulische Leistungen, soziale Beziehungen und Gesundheit entwickelt?
Wenn man eines mit Gewissheit sagen kann, dann ist es, dass die Corona-Pandemie an den Schülerinnen und Schülern nicht spurlos vorübergegangen ist. Über Monate mussten die jungen Menschen Schulschließungen hinnehmen, erst mit Homeschooling und später mit Wechselunterricht klarkommen. Insbesondere die aktuellen Drittklässler an Grundschulen kennen überhaupt nicht den normalen Schulbetrieb, geschweige denn Unterricht unter nicht-pandemischen Bedingungen. Schon die zweite Jahreshälfte ihres ersten Schuljahrs war von der Pandemie überschattet – im Dezember wurden die Erstklässler in den Distanzunterricht geschickt. Im zweiten Schuljahr folgten neuerliche Schulschließungen. Generell fehlten in dieser Situation der unmittelbare Kontakt zu Lehrkräften, die direkte Motivation und die Ansprache durch den Klassenlehrer und das Lob.
Deutlicher Lernrückstand
Fakt ist: Die schulischen Leistungen der Kinder und Jugendlichen sind durch die zweieinhalb Jahre andauernde Pandemie nicht mehr dieselben wie vor Corona. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, sieht klare Anzeichen dafür, dass sich die Pandemie auf den Leistungsstand ausgewirkt hat. „Uns fehlt aber eine genaue Bestandsaufnahme. Wir stochern da immer noch im Nebel", räumt der seit 2017 amtierende Chef des Lehrerverbandes ein. Denn viele Länder haben nach der Rückkehr der jungen Leute an die Schulen keine systematischen Lernstandserhebungen durchgeführt. Gleichwohl ergab die 2021 veröffentlichte repräsentative Umfrage der Robert Bosch Stiftung unter 1.017 Lehrerinnen und Lehrern an allgemeinen und berufsbildenden Schulen, dass man von einem deutlichen Lernrückstand bei 33 Prozent im September 2021 beziehungsweise 41 Prozent im April 2022 der Schüler ausgeht. „Wenn man sich die Verteilung auf die verschiedenen Schularten ansieht, bestätigt sich der von uns zuvor geäußerte Verdacht, dass bestimmte Gruppen besonders unter der Pandemie gelitten haben", sagt der frühere Schulleiter eines Gymnasiums im niederbayerischen Deggendorf. Kinder an Förderschulen seien am wenigsten von allen mit dem Distanzunterricht zurechtgekommen. Auch die Bildungsdefizite der Grundschüler seien höher als beispielsweise die von Schülern an der gymnasialen oder beruflichen Oberstufe. Der Deutsche Lehrerverband schätzt aufgrund von Befragungen unter seinen vier Mitgliedsverbänden, dass hierzulande die „große Masse der Schülerinnen und Schüler" Defizite in puncto Kompetenzen und Lernständen erfahren hat, die nachholbar sind. „All diese Defizite führen dazu, dass der weitere schulische Weg, wenn nicht gefährdet, dann zumindest stark beeinträchtigt ist", erklärt Meidinger. Weiter geht der Lehrerverband davon aus, dass ein Viertel aller Schüler mit Blick auf den Lernstand so stark zurückliegt, dass die Rückstände kaum oder nur mit massiven Anstrengungen aufgeholt werden können. „Die Spreizung ist enorm aufgegangen zwischen den Schülern, die gut mitgekommen oder gefördert worden sind und denen, die letztlich ins Nichts gefallen sind", betont der pensionierte Lehrer. Vor allem ältere Schüler, zum Beispiel in Abschlussjahrgängen, haben dagegen weniger Nachteile in der Corona-Zeit erfahren, auch weil bei ihnen weniger Präsenzunterricht ausgefallen ist.
Zwangs- und Angststörungen
Die kürzlich vorgestellte Studie „IQB-Bildungstrend 2021", in der das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen erste Ergebnisse nach über einem Jahr Schulbetrieb unter Pandemiebedingungen vorlegt, attestierte den Viertklässlern im zweiten Corona-Jahr 2021 einen deutlichen Leistungsabfall im Vergleich zu 2016. Getestet werden dabei die Mindest- und Regelstandards in Deutsch (Lesen, Zuhören, Orthografie) und Mathematik (Globalskala). Auffallend ist: Nur rund die Hälfte der Schüler erreichte den Regelstandard in Mathe (55 Prozent), im Fach Deutsch in den Kompetenzen Lesen und Zuhören kamen auf diesen Standard 58 beziehungsweise 59 Prozent. Im Bereich Orthografie waren es nur 44 Prozent. Ungefähr ein Drittel erfüllte nicht einmal den Mindeststandard in Deutsch und Mathe. Dabei verfehlte fast ein Fünftel der Schüler den Mindeststandard im Lesen und Zuhören (19 beziehungsweise 18 Prozent), etwa ein Drittel bei der Orthografie. Und im Fach Mathe verpasste ein Fünftel den Mindeststandard. „Die große Frage ist, welchen Anteil hatte die Pandemie an diesem Leistungsabfall?", sagt der frühere Vorsitzende des Deutschen Philologenverbandes. Da sich die Leistungen eklatant verschlechtert haben, ist aber anzunehmen, dass die Pandemie dabei eine „deutliche Rolle spielt", sagt Meidinger. Dennoch müsse man sehen, dass andere Faktoren ebenfalls entscheidend sind, beispielsweise der stark wachsende Anteil von Kindern aus Migrantenfamilien, die zu Hause wenig Deutsch sprechen und der Anteil derer, die nicht auf Unterstützung ihrer Eltern zählen können und aus sozial benachteiligten Familien stammen.
Nicht nur Lehrkräfte an Grund- und weiterführenden Schulen nahmen die Corona-Effekte auf junge Menschen hierzulande wahr, auch Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeiter spürten ihre besondere Lage. Entsprechend hatten sie viel zu tun, um persönliche Krisensituationen in und außerhalb der Schule zu begleiten. Auch wenn die Kolleginnen und Kollegen an den Schulen in der Regel keine therapeutische Hilfe anbieten können, haben sie doch die Betroffenen in ihrem Empowerment gestärkt, erklärt Michael Fughe, bundesweiter Ansprechpartner für Schulsozialarbeit im Deutschen Berufsverband für Soziale Arbeit (DBSH). Soll heißen: Die Schulsozialarbeit unterstützt Kinder und Jugendlichen dabei, professionelle Hilfsangebote zu suchen und anzunehmen. Der Bundespressesprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte, Jakob Maske, sagt, vor allem die Lockdown-Maßnahmen haben sich in besonderem Maße auf das soziale Beziehungsgeflecht von Kindern und Jugendlichen ausgewirkt. „Die zwei Lockdowns brachten immense Kontakteinschränkungen mit sich, und jene wiederum führten zu einer Zunahme von Erkrankungen, die wir so noch nicht gesehen haben", sagt der niedergelassene Kinder- und Jugendarzt in einer Gemeinschaftspraxis in Berlin-Schöneberg. Vor allem unter den Jugendlichen haben psychiatrische Erkrankungen wie Essstörungen, Depressionen, Zwangs- und Angststörungen „dramatisch zugenommen". Daneben beobachteten er und seine Kollegen aufgrund des Bewegungsmangels einen dramatischen Anstieg von Adipositas. Die jungen Menschen seien mehr auf Abstand im Umgang zueinander gegangen. „Viele Jugendliche haben Angst, ihre Angehörigen, zum Beispiel ihre Großeltern oder ihre eigenen Eltern, anzustecken", berichtet Jakob Maske. Im Allgemeinen seien der Respekt und die Angst vor der Viruserkrankung groß. Auf kleinere Kinder wiederum hatte die Maskenpflicht einen Effekt, wie Maske erläutert. Durch das unterhalb der Augenpartie bedeckte Gesicht blieb ihnen die Mimik ihrer Eltern, Geschwister und Lehrkräfte verborgen.
„Außenseiter der Gesellschaft"
Doch wie hat sich in der Pandemiezeit der Umgang der Schülerinnen und Schüler untereinander verändert? Michael Fughe findet darauf eine klare Antwort: Kinder und Jugendliche leben seit nun schon fast drei Jahren von „gesellschaftlichen Kontakten isoliert". Logischerweise konnten sie bedingt durch die Einschränkungen der Corona-Pandemie ihre sozialen Kontakte, die zur individuellen Entwicklung ihrer Persönlichkeit und Identitätsbildung nötig sind, nicht ausreichend aufrechterhalten. „Viele Schülerinnen und Schüler wurden zu Außenseitern der Gesellschaft", sagt der Ansprechpartner im DBSH. Lehrkräfte an den Schulen waren allerdings im Großen und Ganzen nicht darauf vorbereitet, während der Pandemie für den Umgang der Schüler untereinander „pädagogisch förderliche Rahmenbedingungen" zu schaffen. Eine Rolle spielt dabei, dass es Lehrkräften und Fachkräften der sozialen Arbeit immer wieder an Digitalkompetenz mangele.
Einmal abgesehen von den Auswirkungen der Pandemie auf Schule und soziale Beziehungen zogen junge schulpflichtige Menschen auch Positives aus der Corona-Krise. Der Berliner Kinder- und Jugendarzt Jakob Maske findet, dass Kinder und Jugendliche die Schule nicht nur als Lern-, sondern auch als Sozialraum schätzen gelernt haben. „Wir haben durchaus häufiger gehört: Ich freue mich wieder auf die Schule, und ich gehe gern in die Schule." Insbesondere Jugendliche haben in dieser Zeit erfahren, wie wichtig „echte Freundschaften sind, auf die man sich verlassen kann". Ansonsten könnten sie nichts Positives aus der Corona-Krise ziehen, gerade im Hinblick auf die jüngste Äußerung von Gesundheitsminister Karl Lauterbach, in der er Schulschließungen bei einer weiteren Infektionswelle im kommenden Herbst nicht völlig ausschloss. „Hier können die Kinder und Jugendlichen leider nichts Positives mitnehmen, sondern müssen weiter sehen, dass sie wieder eine ignorierte Gruppe in diesem System sind", sagt Jakob Maske.