Was motiviert Menschen, etwas an ihrem Verhalten zu ändern? Verbote, Anreize oder äußerer Druck? In der Gleichzeitigkeit großer Krisen ist das keine Frage des Wollens mehr, sondern des Müssens. Auch der Globale Klimastreik 2022 steht im Zeichen der Zeitenwende.
Lebendig war’s diesmal im Hohen Haus in Berlin. Im Bundestag lieferten sich Kanzler Olaf Scholz (SPD) und Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU), sowie tags darauf Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und Jens Spahn (CDU) muntere Rededuelle in Sachen Energie. Die Kurzfassung: 16 Jahre unter CDU-Führung sei in Sachen Energiewende nichts vorangegangen, wettert der Kanzler. Der Oppositionsführer wirft der Regierung „Irrsinn" vor.
Der Streit dreht sich um Energiepreise und Energiesicherheit und entzündet sich am „Streckbetrieb" für Atomkraftwerke. Der Krieg Russlands gegen die Ukraine hat mit all seinen Folgen alte Gewissheiten infrage gestellt – und zu Entscheidungen mit Dilemma-Charakter geführt.
Enormer Druck durch Multikrisen
Kohlekraftwerke laufen wieder, AKWs sollen im Bereitschaftsmodus bleiben – und gleichzeitig wird in einem Ausmaß nach Energiesparmaßnahmen gefahndet, wie es eingefleischte Klimaschützer immer schon gefordert haben, deren Realisierung sie selbst aber wohl kaum in ihren kühnsten Träumen erwartet hätten. Schon gar nicht so schnell und so massiv.
Was alle Aufklärung, aller Protest über Jahrzehnte nicht erreicht haben, dazu zwingen jetzt der Krieg und seine Folgen binnen Monaten. Es geht also. Warum aber nicht schon längst? Die Frage stellt sich wohl auch denen, die gerade den nächsten Globalen Klimastreik vorbereiten.
Was mit einer jungen Frau aus Stockholm begann, entwickelte sich innerhalb von drei Jahren zu einem globalen Phänomen, das zu einer der eindrucksvollsten Protestdemonstrationen gehört, die junge Menschen – Schülerinnen und Schüler, Studierende – jemals auf die Beine gestellt haben: Fridays for Future. Am 15. März 2019 fand der erste weltweit organisierte Klimastreik mit insgesamt 1,8 Millionen Teilnehmenden statt. Mittlerweile sind die Fridays kaum noch aus der Gesellschaft wegzudenken.
Der nächste globale Klimastreik ist für den 23. September angesetzt. Auch für diesen Tag rufen die Klimaaktivistinnen und -aktivisten auf allen Kontinenten und überall in Deutschland dazu auf, unter dem Motto #PeopleNotProfit auf die Straße zu gehen und für mehr Klimaschutz zu protestieren – so wie sie es seither jedes Jahr tun. In Saarbrücken lädt Fridays for Future Saar zu einem „Fest for Future" ein, an einem Samstag wohlgemerkt. Denn sie wollen ihre Komfortzone verlassen und allen Menschen die Möglichkeit geben, in einen Austausch über das Klima zu kommen. Dieses Mal sollen nicht nur Schülerinnen und Schüler sowie Studierende zusammenkommen. Auch Eltern, Großeltern und alle, die sonst an einem Freitag arbeiten müssen, sind willkommen. Doch dieses Jahr ist irgendwie alles anders.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine lässt die Menschen in Europa eine Bedrohung spüren, die sie dazu zwingt, etwas an ihrem Verhalten zu verändern. Der Druck, unabhängig von fossilen Energieträgern aus dem Ausland zu werden, steigt mit jedem Tag, den Herbst und Winter näherkommen. Schreckensszenarien von sozial schlechter gestellten Familien mit dicken Pullovern in ungeheizten Wohnungen flackern vor dem inneren Auge auf. Die Menschen haben Angst vor dem Winter. Sie beginnen, Sprit und Energie zu sparen, informieren sich über neue Heizanlagen und alternative Energieträger. Politikerinnen und Politiker wie Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck und Bundesumweltministerin Steffi Lemke haben begonnen, die Energiewende mit einer Entschlossenheit voranzutreiben, wie man es sich schon in den letzten Jahren gewünscht hätte.
Doch was hat sich eigentlich verändert? Überschwemmungen, Trockenheit, Hitzewellen – all das betrifft auch Deutschland nicht erst seit Februar 2022. Noch dazu werden die Umweltkatastrophen gefühlt jedes Jahr schlimmer. Die Bedrohung ist also schon lange da. Aber außer großem Klagen und viel Diskussion war am Ende in der Praxis der Fortschritt in Sachen Klimaschutz eine Schnecke – oder eigentlich noch langsamer. Leidenschaftlich wurde weiter um jedes neue Windrad und (fast) jeden neuen Solarpark gestritten. Interessierte Investoren verzweifelten an den sich jahrelang hinziehenden Genehmigungs- und Gerichtsverfahren.
Eine These ist, dass sich die Auswirkungen des Krieges bei den Menschen in Europa viel unmittelbarer bemerkbar machen als die steigende globale Erwärmung – nämlich in ihrem Geldbeutel. Die Menschen müssen im wahrsten Sinne des Wortes für etwas bezahlen, was sie nicht wollten: Krieg. Ist das bei der Klimakrise anders? Wer kann schon wollen, dass der Planet in Flammen aufgeht? Viel eher lautet doch die Frage: Was können wir dagegen tun?
Energie-Dilemma: Kohle, Atom und sparen, was geht
Die Konsequenzen der globalen Erwärmung sind vielleicht noch nicht so unmittelbar spürbar wie die Tatsache, dass sämtliche Lebensmittelpreise in den vergangenen Wochen rapide gestiegen sind. Oder dass sich Menschen in Deutschland ernsthaft Sorgen machen, dass in ein paar Wochen kein Gas zum Heizen mehr da sein könnte. Man könnte behaupten, die Klimakrise würde uns auch nicht täglich so deutlich vor Augen geführt, wie es beispielsweise durch die Siegessäule in Berlin oder die Kaiserburg in Nürnberg geschieht, denen für die Nacht das Licht abgedreht wird. Aber ist dem wirklich so?
Vertrocknetes Gras, Bäume, die ihre Blätter hängen lassen, verfärbtes Laub auf dem Boden, obwohl noch gar nicht die Zeit dafür ist. Grüne Seen und Teiche mit Blaualgenbefall, tote Fische, die bäuchlings auf dem Wasser treiben, Brände überall in Europa, Mangelernte, Sorge ums Trinkwasser: All das ist seit Wochen Teil unseres Alltags. All das sind unmittelbare Auswirkungen der Klimakrise. Sie machen sich nicht immer in unserem Geldbeutel bemerkbar, aber dafür in Dingen, auf die wir noch viel mehr angewiesen sind als auf Geld: Luft zum Atmen, Wasser zum Trinken, sicherer Lebensraum, der weder von Flammen noch von Fluten verschlungen wird.
Die EU hatte dafür das große Ziel des ersten klimaneutralen „Kontinents" im „Green Deal" verabredet. Der Krieg und die aktuellen Herausforderungen haben dieses Schlagwort zwar in den Hintergrund gedrängt.
Gleichzeitig ist aber mit dem Krieg der Druck enorm gewachsen, fossile Abhängigkeiten so schnell und so weitgehend wie irgend möglich drastisch zu reduzieren und gleichzeitig den Widerspruch auszuhalten, dazu auf Technologien zurückgreifen zu müssen, deren Verabschiedung längst beschlossene Sache war. Und zugleich jetzt mit einem enormen Potenzial Ernst zu machen, das in der Vergangenheit oft nur beschworen wurde: Energiesparen.
An einem Punkt aber können sich alle Mahner bestätigt sehen: Die bisherige enorme Abhängigkeit von fossilen Energieträgern hätte längst drastisch reduziert werden müssen. Angesichts der aktuellen Entwicklung helfen aber rückwärtsgewandte Diskussionen wenig.
Der Globale Klimastreik am 23. September wird den Blick nach vorne richten müssen – und können. Derzeit ist unter dem Druck der Ereignisse vieles möglich, was vorher nur schneckengleich und mühsam vorangekommen wäre.