Seit Jahrzehnten glauben wir, dass Initiativen wie der Grüne Punkt ein Schlüssel zur Lösung der Plastik-Krise seien. Die ARD-Dokumentation „Die Recyclinglüge“ zeigt schonungslos das Gegenteil auf.
Und da sind mein Name und meine Adresse“, sagt Alison Harding mit entgleisten Gesichtszügen. Die „Recycling-Lady von Shaftesbury“, wie sie sich selbst bezeichnet, wurde vom Filmteam gerade mit von ihr eingesammeltem Müll konfrontiert. Sie selbst war der Meinung, dieser müsse sich in England in einer Wiederaufbereitungsanlage befinden, um bald ein zweites Leben als Seifenschale oder Gießkanne zu führen. In Wahrheit hat das Team der sehenswerten Dokumentation „Die Recyclinglüge“ die Verpackungen in Bulgarien gefunden – dort hingebracht, um in einer Zementfabrik verbrannt zu werden. Eigentlich schickt Harding vorsortierten Plastikmüll zum Unternehmen Terracycle, das ihn zu Granulat verarbeiten will, mit dem neue Produkte angefertigt werden. Dessen CEO Tom Szaky ist trotz modernem Hoodie und sympathisch-wuscheliger Eddie-Vedder-90er-Gedächtnisfrisur nicht sehr angetan davon, mit den Bildern konfrontiert zu werden, und bricht das Interview ab.
Müllverfolgung rund um die Welt
„Die Recyclinglüge“ hat trotz der Mülljagd rund um die Welt die besten Momente, wenn das Filmteam persönliche Momente wie diesen einfängt. So auch zu Beginn, wenn man der jungen Klimaaktivistin Nina Arisandi beim Müllsammeln an einem indonesischen Strand zuschaut und sie danach kurz auf ihren Vorträgen begleitet, auf denen sie ihr „gesammeltes“ Wissen öffentlich macht. Der mit kurzen 76 Minuten flott zu schauende Streifen von Tom Costello und Benedict Wermter war der Gewinner des neunten ARD-Dokumentarfilm-Wettbewerbs 2020. Er zeigt ein nicht funktionierendes System um regelrechte Mafia-Netzwerke, die mit Abfallschmuggel so viel Geld verdienen wie mit Menschenhandel. Es geht um Müllmakler in der Türkei. Es geht aber auch um Unternehmen, die sich an der Verbrennung von Müll bereichern. „Die Recyclinglüge“ schaut der Industrie auf die Finger, die das Problem lieber verbirgt, als eine Lösung herauszuarbeiten.
Köstlich auch, wenn Nicholas Kolesch, Vizepräsident der Alliance to End Plastic Waste, auf gescheiterte Projekte angesprochen wird und seine PR-Beraterin im Off die Fragen einfach wegwischt. Besagte Allianz besteht aus Big Playern wie BASF, Exxon Mobil oder Procter & Gamble (unter anderem Ariel, Blend-a-med, Febreze), die sich zum Ziel gesetzt haben, die Umweltverschmutzung durch Kunststoffabfälle, insbesondere der Weltmeere, zu verringern und zu vermeiden. Ob das mit solchen PR-Beratern gelingt?
Doch der Streifen stößt nicht überall auf Zustimmung. So beschrieb beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Entsorgungs-, Wasser- und Kreislaufwirtschaft nach der Erstausstrahlung die Inhalte als „falsch, unvollständig und kontraproduktiv“. Präsident Peter Kurth erklärte: „Die Zusammenhänge, die der Film konstruiert, sind unzutreffend und lenken von den eigentlichen Problemen ab.“ Es werde der Bevölkerung eingeredet, Getrenntsammlung sei bei Kunststoffen weitgehend sinnlos, weil eh kaum recycelt werde. Grundsätzlich gelte: Recycling sei bei Stoffen wie Metall, Glas und Papier erwiesenermaßen ausgezeichnet. Es sei jedoch korrekt, dass im Bereich Kunststoffrecycling noch Hausaufgaben zu erledigen seien.
Armselige fünf Prozent werden wiederverwertet
Tatsächlich neigt „Die Recyclinglüge“ zur Schwarz-Weiß-Malerei. So wird etwa Jan Dell, einer Chemieingenieurin aus Kalifornien, unhinterfragt geglaubt, dass sie tatsächlich eine Art Aussteigerin aus großen Firmen ist, die nun als Einzelkämpferin am Strand Plastik aufsammelt. Trotzdem zeigt der Film sehr schön, wie einige der größten Konsumgüterhersteller der Welt Recycling als Vorwand nutzen, um ohne Konsequenzen weiter die Umwelt zu verschmutzen. Könnte Recycling am Ende nichts weiter als Greenwashing sein? Denn die meisten Plastiksorten kann man nicht oder nur mit extrem viel Aufwand recyceln.
Am Ende jedenfalls dürften sich viele Zuschauer wie Alison Harding fühlen, die den Grünen Punkt und den Gelben Sack vor Augen haben – armselige fünf Prozent würden daraus nur wiederverwertet, wie die Filmemacher erzählen. Aktuell werde rund die Hälfte des Plastikmülls „thermisch verwertet“, also verbrannt. Es ist ein Entsorgungsverfahren, das sich auch ohne Mülltrennung bewerkstelligen ließe – außerdem wird bei der Verbrennung auch das Öl, mit dem Kunststoff produziert wird, mit in die Luft geblasen.