Je mehr die Krisen uns abverlangen, umso drängender die Frage: „Geht es dabei gerecht zu?“. Davon hängt ab, wie wir durch die Herausforderungen kommen. Aber was ist das eigentlich: Gerechtigkeit?
Es geht an die Substanz. Drei Jahre Corona, ein Jahr Krieg, Inflation, Energiepreissprünge, Flüchtlingsbewegungen, ganz zu schweigen vom Klima. Einem Rettungspaket folgt das nächste, Schutzschirme kommen mit Wumms und Doppel-Wumms.
„You’ll never walk alone“, verspricht der Kanzler in der „Zeitenwende“, in der sich ohnehin vorhandene Probleme mit neuen Krisen überlagern. Sein Vize, Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck, stimmt gelegentlich schon mal darauf ein, dass den Jahren stetigen Aufschwungs nun „Wohlstandsverluste“ folgen werden.
Über all den krisenhaften Entwicklungen schwingt eine Frage immer mit, nämlich ob es dabei eigentlich gerecht zugeht.
In unserer Redaktion hat das intensive Debatten ausgelöst, sicher auch ein Stück weit von der Frage getrieben, wie es insgesamt um den Zustand unserer Gesellschaft steht. Solidarität und Zusammenstehen in der Krise wird schwer, wenn Menschen nicht mehr den Eindruck haben sollten, dass es bei allem, was abverlangt wird, einigermaßen gerecht zugeht, also die Belastungen einigermaßen gerecht verteilt werden. Nur: Was ist gerecht?
„Das Ziel der Gerechtigkeit ist, jedem das Seine zu geben“, sagt der römische Philosoph und Politiker Cicero. Mit viel politischer Mühsal ist in der Pandemie und jetzt in Zeiten von Inflation und Energiepreisschock versucht worden, Unterstützungsmaßnahmen so zu konzipieren, dass sie einigermaßen als gerecht empfunden werden können. Der vielfältigen Kritik an Gerechtigkeitslücken konnten sie nicht entkommen. Aber immerhin: Der vielfach befürchtete und teils angekündigte „heiße Herbst“ ist bislang ausgeblieben.
„Das Ziel ist, jedem das Seine zu geben“
Als wären die materiellen Aspekte nicht schon komplex genug, wird es richtig kompliziert, wenn kaum messbare Betroffenheiten ins Feld geführt werden. Etwa, wenn die eine mit der anderen betroffenen Gruppe konkurriert, jeweils für sich mehr Gerechtigkeit eingefordert wird und schließlich noch die großen übergreifenden Fragen thematisiert werden.
Wie steht es um Generationengerechtigkeit, wenn massive Hilfsmaßnahmen in der akuten Situation durch Schulden zulasten der nachfolgenden Generation finanziert werden? Wenn mit massiven Investitionen der Umbau der Wirtschaft vorangetrieben werden soll, um Klimaschutzziele im Endspurt doch noch erreichen zu können? Klimaschutz ist im Sinne der Generationengerechtigkeit gerecht – aber sind das auch die Schuldenberge?
Und wie steht es um Geschlechtergerechtigkeit, wenn noch nicht einmal das Equal-Pay-Gebot durchgängig verwirklicht ist? Wie um echte Chancengleichheit, wenn in Deutschland Bildungserfolg nach wie vor stark abhängig ist von sozialer Herkunft? Wie um Verteilungsgerechtigkeit, wenn die Vermögensschere ausgerechnet in Krisenzeiten noch weiter auseinandergegangen ist? Gerechtigkeitsaspekte im internationalen, globalen Maßstab sind da noch gar nicht angesprochen. Wobei schon der Bürgerrechtler Martin Luther King befand: „Unrecht an irgendeinem Ort bedroht die Gerechtigkeit an jedem anderen.“
Beantwortet die Summe der vielen Einzelaspekte, was denn nun die Gerechtigkeit ist?
Schon die Denker im alten Griechenland kannten die Unterscheidung zwischen einer Gesetzesgerechtigkeit, also Legalität, und anderen Formen etwa der ausgleichenden Gerechtigkeit.
Jahrtausendelange Suche
Wir können offensichtlich ziemlich klar sagen, wenn und warum wir uns ungerecht behandelt fühlen. Wir können auch halbwegs genau angeben, was wir als gerecht empfinden würden. Mit ein bisschen Souveränität können wir auch zugeben, dass andere etwas anderes darunter verstehen und möglicherweise auch gute Gründe dafür angeben können. Aber dann bleibt das Unbehagen, Gerechtigkeit könnte im Auge des Betrachters liegen, wäre also ziemlich subjektiv. Ein Unbehagen, das auch viele identitätspolitische Debatten begleitet.
Im Übrigen herrschen in anderen Gesellschaften und Kulturen auch höchst unterschiedliche Vorstellungen davon, was als gerecht empfunden wird. Vielleicht glauben sogar Putin und der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. tatsächlich daran, dass die „Spezialoperation“, bei der die Ukraine in den tiefsten, dunklen Winter oder gleich in die Steinzeit gebombt werden soll, eine gerechte Sache ist? Sie sind damit keineswegs allein. Das Unbehagen wächst.
Dass es gerecht zugehen soll, ist eine tief verankerte menschliche Sehnsucht. Kein Wunder also, dass die Frage nach Gerechtigkeit die klügsten Köpfe der Menschheitsgeschichte umgetrieben hat. Für Platon war schon vor fast 2.500 Jahren die Idee der Gerechtigkeit mit der Idee des Guten eng verbunden. In der Bibel ist viel über den „Gerechten“ und „Gottes Gerechtigkeit“ zu lesen. Immanuel Kant hat im 18. Jahrhundert seinen „kategorischen Imperativ“ formuliert, Karl Marx ein Jahrhundert später die Überwindung von Verhältnissen gefordert, die Menschen zu geknechteten Wesen degradieren, John Rawls hat im 20. Jahrhundert Gerechtigkeit als Voraussetzung für die Verwirklichung weiterer Werte wie Toleranz oder Fairness gesehen.
Eine vollkommen gerechte Welt wird es wohl nie geben. Das Ideal aber bleibt ständiger Begleiter. Wer möchte nicht in einer Welt leben, in der es gerecht zugeht? Es bleibt die gesellschaftliche Aufgabe und Herausforderung, sich einem Ideal immer weiter zu nähern, das wir vielleicht nie abschließend exakt definieren können, aber doch ein ziemlich sicheres Gespür dafür haben, was es ist.