Boris Becker schien seine Tage in einer permanenten Reflexion seiner eigenen Historie zu verbringen. Trat er auf und ein, umgab ihn eine Aura. 2022 landete der 55-Jährige hart in der Wahrnehmung als normaler Schuldfähiger und im Knast. Mitte Dezember kam er vorzeitig wieder frei.
Er hat einmal zu viel gepokert. Boris Becker, über den in einer Online-Wissenssammlung für jedermann zu lesen steht, er sei „deutscher Tennisspieler und Olympiasieger und heutiger Pokerspieler und Unternehmer". Wenn Becker Grand-Slam-Turniere kommentierte, geriet er in überschnellende Begeisterung, sobald die Rand-Plaudereien während der Partien zwischendurch zu Poker, seiner zweiten Profession neben Tennis, abschweiften. Zu Beckers neuer Wettkampfwelt, in der er hohen Einsatz zeigen konnte, ohne dass ihn sein sportlich überstrapazierter Körper dabei behinderte. Eine strategische Zone neben dem Alltag der anderen. Hier gewinnt, wer gut im Taktieren ist. Reaktionsstark zum richtigen Zeitpunkt zu sein bringt den Sieg, so stellt sich das Szenario zumindest von außen dar. Boris Becker warb fürs Pokern. Mit seinem Namen. Mit seiner Bekanntheit. Mit seiner Berühmtheit. Mit seiner Historie und Fama, vom tennisspielenden Teenager zum Millionär, der um sein Glück spielt. Doch sein Glück wendete sich. In Geschäften, Vermögens- und Schuldenverwaltung war es nie wirklich bei ihm. Der Mittfünfziger, der in seinem Herzen stets der umjubelte Wunderteenager von Wimbledon blieb, lebte über seine Verhältnisse. Wirkte bis zu seinem persönlichen Jailhouse-Schock gewiss, dass Prestige und Pokale moralisch und juristisch unangreifbar sind. Selbst in der Pleite.
Das Urteil: Knast. Am 29. April 2022 wurde das Tennisidol der Mittachtziger-Jahre bis Endneunziger-Jahre des vergangenen Jahrhunderts von einem Londoner Gericht zu einer Haftstrafe von zweieinhalb Jahren verurteilt. Drei Wochen zuvor hatte die Jury der Rechtsprechungs-Instanz ihn in vier von 24 Anklagepunkten schuldig gesprochen. Für ihre Entscheidung sollten die elf Geschworenen vergessen, dass der Mann, über den sie sich ein Urteil bildeten, Boris Becker war. Ein Mensch, der im tennisliebenden Britannien als Wimbledon-Überflieger und BBC-Kommentator sehr vielen bekannt ist, sicherlich geschätzt war. Doch vor Gericht sind alle gleich. Darauf pochte auch Richterin Deborah Taylor: „Sie müssen die Berühmtheit des Angeklagten völlig ignorieren und ihn genau wie jemanden behandeln, den sie noch nie gesehen haben und der nicht im öffentlichen Rampenlicht steht."
Schuldig in vier von 24 Anklagepunkten
Auch in seiner Heimat gehören „Boris Becker" und „Tennis" als Begriffe in der öffentlichen Wahrnehmung zusammen. Der bislang letzte deutsche Sieger bei den vier wichtigsten Tennisturnieren des Jahres ist noch immer der in Leimen Aufgewachsene, der dreimal in Wimbledon (1985, 1986, 1989), einmal bei den US Open (1989) und zweimal in Australien triumphierte. Der zudem zwölf Wochen lang Weltranglisten-Erster und Olympiasieger war.
Kreiste das Denken des Angeklagten zu wenig um Schadensbegrenzung? Fakt ist: Der einstige Star kam nach britischem Recht nach der Urteilsverkündung direkt in Haft. Anders als noch 2002 in München, wo er mit einer Bewährungsstrafe wegen Steuerhinterziehung das Gericht verlassen durfte.
„Was ihm da passiert, bricht mir das Herz", sagte Novak Djokovic im Juni am Rande von Wimbledon auf Sky. Becker hatte dem Serben in einer Zeit, als dieser an sich zweifelte, geholfen. Als beratender Coach, mit eigenen Erfahrungen aus seiner Zeit als Champion, auf dem Druck lastet. Mit Becker in seiner Box erspielte „Nole" zwischen 2013 und 2016 sechs Grand-Slam-Titel, die den Verlauf seiner Karriere entscheidend definierten. Mittlerweile nennt der 35-Jährige 21 Titel der höchsten Kategorie in der Tenniswelt sein Eigen. Es wird spekuliert, er wolle alle Rekorde von Roger Federer einstellen.
Im zu Ende gehenden Jahr tat Djokovic sich allerdings schwer damit, Trophäen einzusammeln. Aufgrund seines Umgangs mit Covid-19 durfte der „Djoker" manches Mal nicht mitspielen, wenn es um Punkte und Ehren ging. Ungeimpft konnte er zu Turnieren in Nordamerika nicht einreisen, verbrachte am Jahresanfang in Australien gar vier Tage in einem Abschiebehotel.
Dieses Eingeschlossen-Sein ging schneller vorüber als Beckers Aufenthalt im Huntercombe-Gefängnis in Nuffield, etwa 70 Kilometer westlich von London. Dort soll es Chancen auf Weiterbildung geben. Man munkelt von Fitness-Theorie für die Sträflinge. Zweieinhalb Jahre soll das Vorbild mehrerer Tennis-Generationen in Haft verbringen. Nach der Hälfte der Zeit könnte der 55-Jährige auf Bewährung freikommen. Wohin auch immer.
Denn obwohl der gebürtige Leimener seit gut zehn Jahren in der Nähe seines „Wohnzimmers", des Centre Courts von Wimbledon, lebte, soll er nie die britische Staatsbürgerschaft erlangt haben.
Ob Boris Becker nach verbüßter Gefängnisstrafe wieder als freier Mann in England wohnen darf? Das bleibt abzuwarten. Selbst bei Becker, der als dreimaliger Sieger an der Church Road besondere Privilegien als Mitglied im All England Lawn Tennis Club genießt. Zur Urteilsverkündung hatte der dreimalige Rasen-Grand-Slam-Champion seine Wimbledon-Krawatte angelegt. Im Glaskasten sitzend, lauschte er fassungslos, mit hochrotem Kopf, der Richterin. Diesmal ging die Partie gegen ihn aus. Kein Becker-Hecht, keine befreiende Rolle war in Sicht.
Vorgezogenes Weihnachtsgeschenk
„Er hat das Recht gebrochen", sagte Andy Murray, britische Tennislegende, laut „Daily Mail Online" über die Verurteilung des Deutschen. „Und wenn Du das machst, denke ich nicht, dass Du eine spezielle Behandlung bekommen solltest, aufgrund dessen, wer Du bist oder was Du erreicht hast." Ihm tue es leid, dass Becker in dieser Situation sei, sagte der 35-jährige Schotte.
Im wenig noblen Wandsworth Prison, nahe des Tennisclubs, der gerade seine hundertjährige Präsenz an der Church Road feierte, saß die 55-jährige Tennislegende zunächst ein und dachte vermutlich auch an den Beginn seiner Geschichte, als er mit 17 Jahren erstmals das Hochglanz-Grand-Slam gewann. Auf dem legendären Centre Court, der ohne den jüngsten Wimbledon-Sieger der Tennisgeschichte Geburtstag feiern musste. So wie der Wahl-Wimbledoner ausgerechnet in diesem Jahr, als viele ehemalige Champions zum gemeinsamen Feiern ihrer Triumphe zurückkehrten, nicht dabei sein durfte.
Schon Anfang Dezember wurde zunächst in britischen Medien und dann auch bei uns spekuliert, Becker könne noch vor Weihnachten vorzeitig aus der Haft entlassen werden. Am 15. Dezember ging dann alles ganz schnell. Boris Becker ist nach gerade einmal sieben Monaten Haft wieder ein freier Mann. Der Rest der zweieinhalbjährigen Strafe wurde ihm erlassen und er wurde nach Deutschland abgeschoben.