Ganz oben in ihren Studios sitzen die Kommentatoren und Experten bei großen Tennisevents wie den US Open. Dieses Jahr überträgt erstmals Sportdeutschland.TV aus dem Big Apple. Und das gleich aus der größten Box vor Ort.
Es ist nicht leicht, beim Plaudern aus der „Schachtel“ den Überblick zu bewahren, wenn darunter Spieler stöhnen und jubeln. Wenn Zuschauer tosen, buhen, anfeuern und klatschen. „Du musst ein gutes Nervenkostüm mitbringen“, sagt Boris Becker.
So auch die Fans zu Hause, die sich darauf einstellen müssen, wie künftig hierzulande die US Open zu sehen sind. Spielübertragungen, Interviews und Hintergrundberichte können sie nicht wie bisher auch „linear“, also auf ihrem Fernseher sehen, wenn sie auf einen Sender klicken.
Doch Vertrautes bleibt: Ein Teil des15-köpfigen Kommentatorenteams ist von Eurosport bekannt. Der TV- und Streaminganbieter, der seit gefühlten Ewigkeiten mit dem letzten Grand Slam des Jahres verbunden war, hat zusehen müssen, wie der Zuschlag für fünf Jahre US-Open-Übertragung kürzlich an die Internetplattform Sportdeutschland.TV ging. Deren Macher stellten in München Konzept und Kommentatoren vor: Fast alles alte Hasen im Geschäft. Ab dem 22. August startet für die Zuschauer mit allen Spielen der Qualifikation ein dreiwöchiger Tennismarathon, den sie auf ihrem PC via Browser, in der Smartphone- oder per Smart-TV-App auf ihrem Fernsehgerät verfolgen können.
Auftakt am 22. August
Das ist neu: Die Zuschauer werden interaktiv ins New Yorker Studio hineingeholt, wenn sie im Chat Fragen an Boris Becker stellen können, der sie während der Hauptfeld-Matches live beantwortet. Womit wir direkt bei seiner erhöhten „Grundanspannung“ wären. Spontane Auskünfte bedürfen besonders großer Vorbereitung und Flexibilität.
Becker ist sichtlich gut gelaunt. Der bekannteste deutsche Ex-Tennis-Star freut sich nach viel Live-Abstinenz unübersehbar auf die Atmosphäre vor Ort im größten Tennisstadion der Welt. In New York werden der sechsfache Grand-Slam-Sieger und seine für die US Open von Sportdeutschland.TV gebuchten Kollegen erstmals aus der größten verfügbaren Kommentatoren-Box on-air plaudern. Für Becker ist es der erste Moderatoren-Job außerhalb Europas, seit er in Großbritannien inhaftiert war. An seiner Seite sitzt, wie von Grand-Slam-Übertragungen bei Eurosport gewohnt, Matthias Stach.
Hinter der scheinbaren Leichtigkeit des Hartplatz-Events im Indian Sommer steckt ein Kraftakt für Spieler und Begleiter. Seit 1880. Jetzt noch mehr. Becker: „Wir sind höchst konzentriert in unserer Vorbereitung auf ein Match. Das bedeutet, die Nacht vorher schlafen, nicht viel reden. Die Moderation sieht einfacher aus, als sie ist.“ Über ein Match, über den Tag, über das ganze Turnier müssten immer wieder andere Worte, neue Infos, passende Einordnungen zu den Leistungen der einzelnen Spieler gewählt werden.
Der Kasten über den Köpfen des Publikums in Flushing Meadows sei so groß, dass auch Gäste, etwa insgesamt bis zu zehn Sportler, Trainer und Experten, darin Platz haben. „Ein cooles Gefühl“, nennt all das der langjährige Begleiter der Tennis-Szene. Die große Box gehört zum Gesamtpaket, mit dem der Sport-Online-Sender vom US-Verband (USTA) die Übertragungsrechte für Deutschland, Österreich und die Schweiz bis 2027 zugesprochen bekam.
„Das ist das größte Recht, das wir uns je gesichert haben“, betont Björn Beinhauer. Bereits 2014 wurde die Internetplattform Sportdeutschland.TV, deren Geschäftsführer er ist, vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) gegründet. Ein Online-Sportsender, der mehr Vielfalt in die Sportberichterstattung bringen will. Auch kostenfrei.
Wer die kompletten Matches im Einzel und ab dem Viertelfinale Doppel-Partien sehen will, muss die „Pay“-Variante wählen. Der Vorteil für die Fans: Sie zahlen nur für Tennis und auch nur für das eine Event. Mit Frühbucherrabatt 20 Euro, ansonsten 25 Euro. Oder weniger, wenn sie nur für ein Spiel oder einen Tag einschalten wollen.
US Open erstmals in vollem Umfang
Mario Harter und der einstige Tourspieler Mischa Zverev moderieren vom 28. August bis 1. September täglich vier Stunden einen Rundumblick auf alle siebzehn Courts. Sie sollen mit ihrer kostenlosen Konferenz aus Düsseldorf vor allem junge, schnell vorbeischauende Fans ansprechen. Frei sollen auch alle Spiele in den Konkurrenzen Juniors, Mixed und im Rollstuhltennis verfügbar sein.
Im sechsstelligen Bereich solle die Zahl der zahlenden Zuschauer für die US Open liegen, sagt Beinhauer. Für das kostenlose Angebot rechnet Sportdeutschland.TV mit mehreren Millionen Menschen. „Wie bei Handball“, sagt der Manager. Sollte etwa Alexander Zverev im Finale stehen, könnten einzelne Lizenzen an ARD oder ZDF erteilt werden.
Es gibt viel zu beleuchten, wenn die US Open in deutschen Abend- und Nachtstunden live aus New York gestreamt werden. Etwa an wen wieviel von der Rekordgesamtsumme von 65 Millionen US-Dollar an Preisgeld ausgeschüttet wird. Die Veranstalter feiern 50 Jahre Gleichberechtigung von Frauen und Männern im Tennissport: indem die Siegerin der Damenkonkurrenz die gleiche Siegprämie wie der Champion beim Männerturnier bekommt.
Insidern bekannte Namen wie der von Jannik Schneider, einem Sportjournalisten, der auch zu investigativen Themen hinter den Kulissen unterwegs ist, kommen zu den gewohnten Stimmen aus der Moderatoren-Kabine hinzu. Erstmals werden durch Sportdeutschland.TV die Zuschauer in vollem Umfang – mit allen Nebenschauplätzen – von zu Hause zu den US Open mitgenommen. Wer sich ab 17 Uhr nicht die Nacht um die Ohren schlagen will, kann die abgeschlossenen Matches tagsüber „on demand“ nachschauen.
Mittendrin zu sein, im Hexenkessel eines riesigen Sportevents, mache die Arbeit zum besonders gut transportierbaren emotionalen Erlebnis, hofft Marcel Meinert, der erstmals bei einem Grand Slam vor Ort kommentiert. Wenn er versuche, hinunterzuschauen, auf die winzigen Punkte in der Tiefe der Tennisarena, schleiche sich eher die Panik ein, herunterzufallen, witzelt sein Kollege Stach.
Freundliche Übernahmen sind im Trend beim Tennis. Der Ballsport boome gerade deshalb wieder, sagt Boris Becker, weil die Jungen es spannend fänden, wie „neue“ Spieler die Arrivierten attackieren und ablösen. Dazu passt eine neue Statistik: Von 1,44 auf 1,47 Millionen Spielerinnen ist die Zahl der Mitglieder im DTB zuletzt gestiegen, vor allem wegen junger Tennisstarter.
Experten und Fans sind gespannt, was sich der dreifache US-Open-Champion Novak Djokovic mit seinen 36 Jahren einfallen lässt, um seinem Bezwinger von Wimbledon, dem 20-jährigen Carlos Alcaraz, der im Vorjahr die US Open gewann, den zweiten Sieg in Folge zu verderben. Der Deutsche Alexander Zverev ist als 26-Jähriger in Bestform seit seiner Verletzung vom Vorjahr. Und dessen Finalgegner von 2020, der Österreicher Dominic Thiem, kehrt ebenfalls in aufsteigender Verfassung dorthin zurück, wo er vor drei Jahren seinen ersten Grand-Slam-Titel in fünf Sätzen gegen den Deutschen im Tiebreak errang.
Jan-Lennard Struff kann nicht regeneriert an seiner guten Saison weiterfeilen: Der Warsteiner sagte kurzfristig ab. Gemeldet sind mit Zverev, Yannick Hanfmann, Daniel Altmaier und Dominik Köpfer insgesamt vier deutsche Profis, die ohne Qualifikation bereits auf der Männer-Liste fürs Hauptfeld stehen. Plus das deutsche Hoffnungsduo Kevin Krawietz und Tim Pütz.
Kommentator Marcel Meinert verrät, dass Alexander, genannt „Sascha“, Zverev nach seinem höchst emotionalen Sieg in seiner Heimatstadt Hamburg für ihn ein Favorit sei: „Er ist so weit, wieder unter die letzten vier zu kommen und auch fähig, Djokovic zu schlagen.“
„Fähig, Djokovic zu schlagen“
Flashback in den Juli, zu den Hamburg European Open, nachdem Zverev seinen Siegespunkt gespielt hat: „Sascha“ wirft sich bäuchlings auf den Boden und schluchzt längere Zeit in den Sand. Zehn Jahre nachdem er seine erste Wildcard von Michael Stich für das Hamburger Turnier bekommen hatte. Und seine ATP-Karriere startete.
Ist Hamburg der Startpunkt für Zverevs ersten Grand-Slam-Sieg? – Becker: „Grundsätzlich traue ich ihm einen Grand-Slam-Sieg zu.“ Jeder Spieler brauche ein Erfolgserlebnis. „Das war Hamburg für Alexander, das Gefühl: ‚Ich bin wirklich zurück.‘ Auf Hartplatz ist Sascha sehr gut.“
Boris Becker selbst holte als einziger Deutscher 1989 den Titel in New York. Bei den deutschen Damen gelang das zuletzt Angelique Kerber 2016 – nach den fünf Titeln, die Steffi Graf bis 1996 mit scheinbarer Leichtigkeit mitnahm.
Die neue deutsche Hoffnung, Jule Niemeier, muss auf Absagen fürs Hauptfeld hoffen oder drei Runden Qualifikation überstehen. Tatjana Maria, Anna-Lena Friedsam und Tamara Korpatsch hingegen dürfen direkt gegen die besten Damen der Tenniswelt antreten.
Vorjahressiegerin Iga Sviatek nennen Sportdeutschland.TV-Experten als Favoritin. Außerdem Aryna Sabalenka. Die Belarussin holte zum Jahresbeginn ihren ersten Grand-Slam-Titel bei den Australian Open – auf Hartplatz.
Emma Raducanu, die 2021 zur Königin der US Open aufstieg, zeigte, dass mit Unbekannten zu rechnen ist. Oder mit Wiederkehrerinnen? Die US-Amerikanerin Jennifer Brady, Australian-Open-Finalistin von 2021, kehrt nach zwei Jahren aus ihrer Verletzungspause zurück. Die Dänin und ehemalige Nummer eins der Weltrangliste, Carolin Wozniacki, revidierte ihren Rücktritt und spielt wieder bei den Profis mit. Anders Serena Williams, die neben Chris Evert mit sechs Titeln bislang erfolgreichste US-Open-Titelsammlerin. Die 23-fache Grand-Slam-Siegerin konzentriert sich weiterhin verstärkt auf Kind Nummer zwei, Naomi Osaka auf ihr erstes Baby.
Die US-Open-Königin von 2017, Sloane Stephens aus den USA, dürfte wie Vorjahres-Finalistin Ons Jabeur zu Kommentaren über ihre aktuellen Chancen anregen. Die Tunesierin schrammte in Wimbledon zum zweiten Mal in Folge knapp am Titelgewinn vorbei. Gelingt ihr als erster arabischstämmiger Frau nun doch ein Grand-Slam-Finalsieg, nach drei Anläufen? Auch dafür braucht es ein gutes Nervenkostüm, besonders im laut brodelnden Hexenkessel von New York.