Ein 20-Jähriger erobert den Thron, den zwei lange Jahrzehnte vier Große besetzt hielten: Carlos Alcaraz siegt mit Beharrlichkeit im Altherrenclub Wimbledon. So wie einst der 17-jährige Boris Becker.
Der neue König von Wimbledon, Carlos Alcaraz, will Carlos, lieber noch: Charly, genannt werden. Cool wie ein Krimiheld. Nicht Carlitos, was so viel wie „der kleine Karl“ heißt: Respekt, bitte schön, wenn ein so junger Mensch nicht vor langen, kräftezehrenden Tennismatches und allem Aufwand drumherum zurückschreckt. Wenn sich ein talentierter 15-Jähriger in der Tennisakademie eines ehemaligen ATP-Ranglistenführers schindet, bis er mit 20 Jahren und seinem ersten Grand-Slam-Titel zur jüngsten Nummer eins der Geschichte auf der Profitour wird.
Damit nicht genug: Tränen hatte der 43-jährige Juan Carlos Ferrero in den Augen, als sich sein wie ein Schulabgänger aussehender Schützling am 16. Juli 2023 rücklings auf den Rasen von Wimbledon warf und seinen Sieg über Novak Djokovic beim wichtigsten Tennisturnier der Szene kaum fassen konnte. „Ich bin erst 20 Jahre alt, alles passiert viel zu schnell. Aber ich bin stolz darauf, wie wir jeden Tag arbeiten“, schrieb „Charly“ auf Twitter nach seinem Sieg und nachdem er als Erstem seinem Coach um den Hals gefallen war.
„Alles passiert viel zu schnell“
Der Mister Tennis von Deutschland, Boris Becker, mochte es nie, das „Bobele“ zu sein. Wo der heute 55-Jährige doch schon vor seinem historischen Sieg als Siebzehnjähriger von Erwachsenen umgeben war. Beckers Triumph seines Lebens ereignete sich auf demselben Centre Court, auf dem 38 Jahre später der junge Alcaraz nach der begehrtesten Tenniskrone hechtete. Berater, Trainer, Vermarkter, Väter: So viele Ältere sind am Start, wenn talentierte Junge groß werden und vor der Zeit das Kindsein sein lassen müssen.
Boris und Carlos: Beide Ballsport-Stars wurden sehr jung zu Champions auf dem heiligen Rasen von Wimbledon. Und zu Lieblingen des Publikums. Tennis-Aufbruch gegen Tennis-Etablissement zieht: Elf Millionen Zuschauer saßen 1985 bei Beckers Finalsieg über Kevin Curren vor den Fernsehern in Deutschland. Rund 15.000 Gäste harrten beim Fünfsatz-Krimi Alcaraz gegen Djokovic für fast fünf Stunden auf den Sitzen um die Tennisarena in England aus. Die Fans verniedlichen gern die Namen der jungen Gipfelstürmer. Doch sie erkannten die angriffslustige Wettkampfreife des jüngsten Wimbledon-Siegers aller Zeiten an. So wie die seines jüngsten Nachfolgers seither, Carlos 2023 nach Boris 1985.
Eine Ära ging zu Ende, als ein Spanier der jüngsten Profi-Generation am 16. Juli den Wimbledon-Pokal gen Himmel hob, den zwei Dekaden lang die „Big Four“ nicht aus den Händen gegeben hatten: Roger Federer, Rafael Nadal, Sir Andy Murray und Novak Djokovic. Jetzt stand ein 20-Jähriger allein an der Church Road im Londoner Vorort auf dem Centre Court, den Boris Becker einst zu seinem Wohnzimmer erklärt hatte. „Karl der Große“ könnte sich der junge Mann aus Murcia nennen. Gerade hatte er den 16 Jahre älteren Djokovic auch in Wimbledon auf den zweiten Platz verwiesen. Den „Djoker“, der die Trumpfkarte sonst nicht aus der Hand gibt. Dem die Weltrangliste angeblich egal ist. Aber die Titel nicht. Trotzdem setzte sich der so viel Unerfahrenere gegen den Toptaktiker durch. Ein Husarenstück.
„Du hast bereits Turniere gewonnen, als ich gerade geboren wurde“, rief Alcaraz dem Serben breit grinsend während der Siegerehrung zu. Diese freche Lobeshymne an Novak amüsierte den spanischen König Felipe, der in der „Royal Box“ mit dem britischen Kronprinzen William, Prinzessin Kate und deren Kindern Charlotte und George saß.
Sein König solle doch öfter zu seinen Matches kommen, erbat der Wimbledon-King Carlos von Felipe mit einem schelmischen Lächeln. Zweimal habe der Monarch aus Madrid ihm zugeschaut. Beide Male hatte Alcaraz gewonnen. Bei den US Open 2022, als Novak abwesend war und in Wimbledon, als der Serbe sehr präsent war. Ein unermüdlicher Gegner, der sagenhafte 23 Grand-Slam-Trophäen für seine gute Stube abgestaubt hat.
Kein Spiel hatte Djokovic in den vergangenen zehn Jahren auf dem Centre Court des Tennisclubs verloren. Doch nun kam ein Junger, der partout nicht klein beigeben wollte. Ein paar Wochen zuvor, im Halbfinale von Paris, sah das noch anders aus. Vor den Augen der Welt plagten den gerade 20 Jahre gewordenen Spanier Krämpfe. Nach verlorenem Match erklärte der sonst superfitte Jungstar die Spasmen damit, dass sich sein Körper aus Respekt vor der Legende „Nole“ verspannt habe.
„Charly“ beriet sich mit einem Mental Coach und gewann mit der bitteren Lektion eine weitere Fähigkeit hinzu: kämpfen ohne Ansehen der Person. Immer weiter. So wie einst Boris Becker. Und es gelang – beiden. In einem Alter, in dem sich Körper und Persönlichkeit erst entwickeln, holten sie als unterschätzte Jungs den ultimativen Sieg im Tennissport: den Titel des Königs von Wimbledon. Becker 1985 als noch 17-Jähriger, in einer Ära, in der Rasen gängiger Belag war. Alcaraz 2023, in einer Epoche der Hart- und Sandplatzdominanz, in der viele Spieler mit Rasen fremdeln. So auch der Schützling von Ferrero, der vor seinem Wimbledon-Sieg selten auf dem Grün agierte. Anders als Boris, der Rasen liebte und ihn damals häufig in Turnieren rutschend und hechtend zu seinem Freund formte.
Jannik Sinner der Wunschrivale
Becker war der erste Spieler, der ungesetzt im All England Lawn Tennis and Croquet Club den Titel holte. Gegen den Amerikaner Curren. Der hatte zuvor Stefan Edberg, Jimmy Connors und John McEnroe besiegt. Einzig Boris gab ihm nicht nach und zog in vier Sätzen davon. „Ich wäre ein besserer Tennisspieler geworden, wenn ich Wimbledon später gewonnen hätte“, sagte der sechsfache Grand-Slam-Sieger später immer wieder über seinen Triumph als unbekannter Teenager, da ihn, fast als Kind, Vorteil und Bürde eines Promi-Daseins überrollten.
Alcaraz trat trotz seiner Jugend als Nummer eins der Weltrangliste an. Trotzdem war er, wie 1985 Becker, nicht der Favorit auf den Titel. Das waren bei beiden die Gegner. Doch Boris hatte wie Carlos beim Vorturnier im Queen’s Club alle anderen ausgeschaltet. Dieser Sieg ist stets ein gutes Omen für Wimbledon, das viel auf Traditionen hält.
Allzu historisch wollte Alcaraz seinen Wimbledon-Titel nicht sehen. „Es ist wirklich früh“, sagte der 20-Jährige. Er habe nicht für den Generationenwechsel gespielt, sondern für sich. Trotzdem motiviere er: Selbst die jungen Spieler könnten sich nun vorstellen, dass sie es auch schaffen. „Das ist der glücklichste Tag meines Lebens. – Vorerst“, jubelte „Charly“, der auch Matteo Berrettini, Holger Rune und Daniil Medvedev heimgeschickt hatte. Die Pflicht ist getan, jetzt freut sich Carlos auf die Kür: Matches gegen den 21-jährigen Jannik Sinner. Der Südtiroler ist für den Marcianer der Wunsch-Rivale in künftigen Finals. Die Älteren sind aus Sicht der jungen Topstars raus.
Spanien ist eine Tennis-Nation, seit Manuel Santana 1961 die French Open gewann. Erweitert durch seinen Sieg fünf Jahre später auf dem Grün von Wimbledon. Eine Tennisnation, vor allem auf roter Asche. Mit großen Spielern, Trainern, Akademien sowie Rafael Nadal. Der Sandplatzkönig gewann 2008 und 2010 in Wimbledon. Er gratulierte Alcaraz mit einem schnellen Aufschlag auf Twitter: „Du hast uns heute eine unermessliche Freude bereitet.“ Der 37-Jährige fügte hinzu: „Eine große Umarmung und genieß den Moment, Champion.“
Zurück zu Becker, der nach seinem Paukenschlag-Sieg von 1985 auch als „Bum Bum Boris“ durch die Medien flanierte. Als 17-Jähriger löste der Leimener einen Hype aus. Deutschland explodierte zur Tennis-Nation. Mit den meisten Mitgliedern weltweit. Tennissocken eroberten selbst die Büros. Wer in den 1980er- und 1990er-Jahren auf ARD oder ZDF den Fernseher einschaltete, stieß auf beiden Kanälen auf Turniere. Programmänderungen für Tennis nahmen die Zuschauer hin. Zumindest, wenn Boris und Steffi Graf spielten: Die „Gräfin“, die ziemlich zeitgleich mit Boris bei den Damen Titel abräumte. Legenden wie Mats Wilander, Ivan Lendl, McEnroe und Connors verwies der Rotschopf aus Leimen mit seinem Wimbledon-Coup in ihre Grenzen.
So wie es Alcaraz 2023 mit dem übrig gebliebenen Rest des Dreigestirns Federer, Nadal und Djokovic gelungen ist. Er lässt das Triumvirat nicht unbesiegt abtreten. „Nole“ attestiert ihm die Qualitäten der Großen Drei: „Die Leute sagen, dass sein Spiel aus bestimmten Elementen von Roger, Rafael und mir besteht. Ich stimme dem zu. Er hat das Beste aus allen drei Welten“.
„Das Beste aus drei Welten“
Wimbledon-Jungstar Alcaraz ist der neue König der Tenniswelt. Seine Erfolge werden sich fortsetzen. Mehr noch als bei Becker. Wobei Alcaraz keine Notwendigkeit hat, Tennis in Spanien zu beleben. Anders war das 1985 hierzulande. Doch gibt es aktuell Nachfolger von Boris und Steffi aus Deutschland?
In der zweiten Woche in Wimbledon fehlten die Deutschen. Obwohl sie sich gut schlugen im Königreich. Am weitesten kamen Alexander Zverev und Maximilian Marterer. Der Nürnberger Marterer erreichte nach der Qualifikation erstmals die dritte Runde in Wimbledon. Zverev zog nach seiner langwierigen Verletzung Fünf-Satz-Matches erfolgreich durch, bis ihm Berrettini die Tür zur zweiten Turnierwoche vor der Nase zuschlug.
Tamara Korpatsch mag nun Rasen und feierte ihre Zweitrunden-Premiere bei einem Grand Slam. Jule Niemeier hatte in der ersten Runde French-Open-Finalistin Karolína Muchová aus Tschechien aus dem Turnier geworfen. Yannick Hanfmann litt unter Wetter-Pech bei seinem Erstrunden-Match gegen Taylor Fritz: Erst nach zwei Tagen wurde die Partie im fünften Satz fortgesetzt. Nach 13 Minuten war das Match vorbei, noch bevor der Karlsruher warm wurde. Sein nächstes Ziel nach dem Einzug in die Top 50 der Welt: „Die zweite Woche in einem Grand Slam.“ Hanfmann spielt mit 31 Jahren seine bisher beste Saison.
So jung wie Becker und Alcaraz wird in absehbarer Zeit kein Deutscher einen Grand-Slam-Titel holen. Eines haben die Deutschen in Wimbledon in teils sehr engen und ausdauernden Matches gezeigt: Beharrlichkeit. Wie die zwei herausragenden Jungstars der Wimbledon-Historie, Boris und Carlos.