Frauen sind an Multitasking gewöhnt. Zweiteilen können sie sich trotzdem nicht. Auch wenn es um den 60. Geburtstag des Nationenwettbewerbs im Tennis geht. Das Schöne: Siegemund und Co. fahren entspannt zu den Finals nach Sevilla und hoffen in Abwesenheit einiger Favoritinnen auf den Sieg im wichtigsten Teamwettbewerb im Damentennis.
Im Londoner Queen’s Club, zur Geburtsstunde des damals „Federation Cup“ genannten Weltwettbewerbs der Frauen-Ländermannschaften, waren im Juni 1963 direkt deutsche Spielerinnen dabei. Insgesamt 58 der 60 Jahre, die es das weibliche Gegenstück zum Davis Cup der Männer gibt, traten Deutsche an. Sie standen 41 Jahre in der Weltgruppe, holten zweimal den Gesamtsieg und erreichten siebenmal das Finale.
Im Geburtstagsjahr des seit drei Jahren – nach der US-Spielerin, die 39 Grand-Slam-Titel errang – „Billie-Jean-King-Cup“ genannten Turniers gelang ihnen letzterer Coup einmal mehr. Diesmal dürfen die deutschen Damen – nach in der jüngeren Historie eingeführtem, neuem Modus – auf Hartplätzen im Estadio de La Cartuja um den Sieg in den Finals spielen. Mit ihnen treffen sich im abschließenden Cup-Wettstreit des Jahres acht weitere Teams, die sich quer über den Globus qualifiziert haben, sowie die Finalisten von 2022, Schweiz und Australien. Außerdem der Wildcard-Eroberer Polen. Die hoffnungsfrohe Frage zum 60. Geburtstag des einst schön kurz „Fed-Cup“ heißenden Turniers im Jahr 2023: Gibt es aus und in Spanien den dritten Sieg der deutschen Tennisfrauen nach 1987 und 1992 zu sehen?
„Es war ein goldener Tag“, hatte Anna-Lena Friedsam nach ihrem entscheidenden Match im April in Stuttgart gesagt, als ihr Auftritt Deutschland den Einzug in die Finals vom 7. bis zum 12. November im spanischen Sevilla bescherte. Mit 6:1 und 6:0 hatte die 29-Jährige angriffslustig und fokussiert die Brasilianerin Laura Pigossi im Schnelldurchgang besiegt.
Länger wird es dauern, bis die Bad Saulgauerin Tatjana Maria, die 2006 erstmals im Fed-Cup antrat, Anna-Lena Friedsam (Neuwied), Laura Siegemund (Metzingen), Eva Lys (Hamburg) und Jule Niemeier (Dortmund) in den letzten Matches der Finals, in den wahren Endspielen des Endspiel-Events, angekommen sind. Sofern die Deutschen in Sevilla zehn goldene Händchen haben:
Die Gruppenphase der vier Dreiergruppen startet am 7. November. Das Porsche Team Deutschland kämpft am 9. November ab 10 Uhr gegen Italien und am 10. November ebenfalls ab 10 Uhr gegen Frankreich um den Einzug als Gruppensieger ins Halbfinale der Finals. Dabei muss das deutsche Team jeweils zu zwei Einzel und zu einem Doppel antreten.
Zwei starke Gegner
„Italien und Frankreich verfügen beide über sehr starke Mannschaften mit Weltklasse-Spielerinnen im Team, die uns alles abverlangen werden“, sagt Team-Kapitän Rainer Schüttler. Friedsams unerschrockene Aggressivität ist gefragt gegen Caroline Garcia, der aktuellen Nummer fünf der Welt, sowie gegen die sechsfache Grand-Slam-Siegerin im Doppel, Kristina Mladenovic. Oder auch gegen Alizé Cornet. Friedsam, Siegemund, Lys, Niemeier und Maria konfrontieren zudem vier Top-60-Spielerinnen aus Italien.
Schüttler, der 2020 als Teamchef von Barbara Rittner übernahm, ist überzeugt von den Nominierten. Die Mannschaft habe gezeigt, dass sie auch mit höher eingestuften Teams mithalten könne: „Wir sind in unserer Gruppe sicherlich nicht der Favorit, aber wir freuen uns auf diese Aufgabe“, sagt der Kapitän.
Nach dem Halbfinale am 11. November beschließt das Finale am 12. November die Geburtstags-Finals. „Unser Ziel ist es, als Außenseiter für eine Überraschung zu sorgen“, gibt der Kapitän der deutschen Damenmannschaft als Marke vor.
„Diese Spielerinnen haben in Stuttgart mit starken Leistungen überzeugt und es sich verdient, den gemeinsamen Weg in Sevilla fortzuführen. Die Mannschaft ist über die vergangenen Partien eng zusammengewachsen und hat ein starkes Teamgefühl entwickelt, das uns zusammen mit unserer spielerischen Qualität für jede Nation zu einem schwierigen Gegner macht“, sagt Schüttler. Sagen aber vielleicht auch andere Kapitäninnen.
Historisch gesehen sind Profi-Spielerinnen der Gegenwart insgesamt vielseitiger und fitter als Kontrahentinnen vor 60 Jahren. Tatjana Maria hat sich heuer knapp über den Top 50 der Weltrangliste eingeordnet und überrascht ihre Gegnerinnen mit unkonventionellen Strategien. Laura Siegemund hält sich – trotz zwischenzeitlicher Rücktrittsüberlegungen – als Favoritinnen-Schreck immer noch in den Top 100. Die unermüdliche Anna-Lena Friedsam, die 2016 die Nummer 45 der Welt war und durch langwierige Schulterprobleme massiv in ihrer Karriere behindert wurde, sicherte sich in Stuttgart den Einzug ins Finale. Wimbledon-Viertelfinalistin Jule Niemeier hadert aktuell mit einem Ergebnistief, zeigte aber immer wieder außergewöhnlich starke Matches. Eva Lys, die mit zwei Jahren aus der Ukraine nach Deutschland kam, bewies in Stuttgart, dass sie auf dem Spielfeld sehr hartnäckig sein kann.
Obwohl von den Nachfolgerinnen der „Golden Girls“ im deutschen Damentennis nicht zwingend Siege erwartet werden, begeisterte das Quintett im April bei der Qualifikation, als es Deutschland ins Finale des Geburtstags-Cups brachte. Souverän gelang ihnen das, auch wenn die einstigen Top-Ten-Spielerinnen Julia Görges und Andrea Petkovic nicht mehr im Team sind. Ebenso wie Ex-Wimbledon-Finalistin Sabine Lisicki und Anna-Lena Grönefeld, die seit ihrer Heirat 2018 Herzgerodt heißt. Ex-Top-Ten-Spielerin Angelique Kerber könnte kommendes Jahr noch einmal dazustoßen: Im Januar will die 35-Jährige, die im Februar Mutter wurde, beim eher lockeren United Cup in Australien starten.
Um Spaß und Ehre ging es auch den BJK-Cup-Ehemaligen, die antraten, obwohl sie bei ihren Einsätzen keine Punkte für die Weltrangliste sammeln konnten. Umso mehr empörte sich Andrea Petkovic, nachdem 2017 bei der Eröffnungszeremonie vor der Erstrundenpartie des deutschen Fed-Cup-Teams gegen Gastgeber USA auf Maui ein Solist die erste Strophe des Deutschlandliedes gesungen hatte: „Es war das mit Abstand Schlimmste, was mir im Leben, aber speziell im Fed-Cup, passiert ist“, war Petkovics erste Reaktion, die sie mit ein wenig Abstand relativierte. Doch auch die damalige Teamchefin Barbara Rittner war entsetzt, weil der „Gänsehaut-Moment“ des wichtigsten Team-Events der Tennis-Frauen durch den Eklat zerstört worden sei: „Ich hätte heulen können.“
Grönefeld war 14 Jahre dabei
Angelique Kerber und Petkovic waren dabei, als Deutschland 2014 nach 22 Jahren Wartezeit endlich wieder das Fed-Cup-Finale erreichte – und gegen Tschechien verlor. Seit 2005 stieg die Mannschaft in schöner Regelmäßigkeit im Düsentempo auf und gleich wieder ab. Ähnlich rasant, wie der Name des Turniers von 1995 bis 2020 in neuer Façon zu sprechen und zu schreiben war, nämlich kurz: „Fed Cup“.
Die beständigste Nationalmannschaftsspielerin aus deutscher Sicht war Anna-Lena Grönefeld, die 14 Jahre in Folge als Einzel- und Doppelspielerin treue Konstante und erfolgreiche Mitreißerin im Team war. Nach ihrem Karriereende 2019 entstand eine große Lücke. In jenem Jahr hätte Deutschland ein weiteres Mal den Fed Cup holen können: wären Angelique Kerber und Julia Görges mit angetreten. Vielleicht. Denn es war Anke Huber, welche in 60 Jahren die meisten Einzel gewonnen hat: 24 Siege gegenüber neun Niederlagen. Helga Masthoff gelangen die meisten Gesamtsiege, nämlich 38 zu 18 gewonnene Matches. Alles in allem ist Masthoff am häufigsten, nämlich in 33 Events, für Deutschland im Tenniswettstreit der Nationen angetreten.
In Erinnerung bleiben wird der erste Federation-Cup-Sieg 1987, als Steffi Graf und Claudia Kohde-Kilsch doch noch den Titel für Deutschland holten. Sonst beste Feindinnen, lagen sich die frühere und die damals amtierende deutsche Nummer eins in den Armen und sollen – laut „Spiegel“ – abends mit den Vätern lustig gefeiert haben: mit Poolsprung und Polonaise. Den Titel als „Mannschaft des Jahres“ gab es später obendrauf.
Enger Termin-Plan
Doch die besten Damen der Saison tun sich heuer schwer damit, zur Geburtstags-Fiesta für ihr Land in Spanien anzutreten. Das Problem für Spielerinnen, die für zweierlei Finals in der ersten Novemberhälfte qualifiziert sind: Iga Swiatek, Marketa Vondrousova, Jessica Pegula, Elena Rybakina, Karolina Muchova und Madison Keys holten im Saisonverlauf sehr viele Punkte bei den WTA-Turnieren. Für sie heißt das, dass sie nur knapp vor den BJK-Cup-Finals der Nationen-Teams um die Krone der besten Einzelspielerin des Jahres bei den WTA-Finals in Mexiko kämpfen müssten. Nach den Maßstäben von Zeit, Raum und verfügbarer Energie ist diese Doppelbelastung kaum machbar: Wo spielen, was lassen? Ein Dilemma, das zum Glück kein Problem für die deutschen Damen darstellt, die für Sevilla nominiert sind.
Denn Maria, Friedsam, Siegemund, Lys und Niemeier sind starke Tennis-Powerfrauen. Ob im Einzel, Doppel oder als Team. Aber die Fünf vom Porsche-Team Deutschland laufen nicht Gefahr, unmittelbar vor ihrem Mannschaftseinsatz in Spanien noch in Cancun in Mexiko zur Höchstform auflaufen zu müssen. Dort geht es bei den WTA-Finals vom 29. Oktober bis zum 5. November darum, die Allerbeste der besten acht Spielerinnen des Jahres auf der WTA-Tour der weiblichen Profis zu ermitteln.
Anders sieht es für die Polin Iga Swiatek aus, die lange die Weltrangliste anführte und den Sandplatz-Grand-Slam in Paris gewann. Wie vergangenes Jahr verzichtet die Polin wegen der terminlichen Überfrachtung auf den Billie-Jean-King-Cup. Stets wird von Spitzen-Profis bei Damen und Herren erwartet, dass sie für ihre Nation beim Billie-Jean-King-Cup beziehungsweise Davis-Cup sportlich kämpfen. Doch die Geburtstagsparty des einstigen Fed Cups steigt heuer vom 7. bis zum 12. November in Südeuropa, wohin die WTA-Finals-Teilnehmerinnen buchstäblich im Flug von ihren mittelamerikanischen Endspielen wechseln müssten.
Auch Marketa Vondrousova, die in Wimbledon vom Balkon winkte, und Coco Gauff, die einen amerikanischen Traumsieg bei den US Open holte, haben sich über die Saison für die WTA-Finals qualifiziert. Die US-Amerikanerinnen Jessica Pegula und Gauff, beide in den Top fünf der Welt, entschieden, den Atlantik nicht für die BJK-Cup-Finals zu überqueren. Das macht den anderen Nationen den Wettbewerb leichter, zumal die USA mit 18 Turniersiegen das erfolgreichste Nationalteam sind. Tschechien, in der 60-jährigen Statistik mit elf Pokalen auf Platz zwei der Triumphe, hat somit besonders gute Karten: Die Weltranglisten-Sechste Vondrousova nimmt das Multitasking, das sich ITF und WTA für die Top-Spielerinnen ausgedacht haben, an. Geht ihr in Sevilla bei der Geburtstags-Party doch noch die Puste aus, freuen sich andere über ein größeres Stück vom Fed-Cup-Cake: beispielsweise Siegemund und Co.