Erst Inflation, dann Stagflation und Rezession? Viele Wirtschaftsinstitute rechnen zumindest mit einem Rückgang des BIP in diesem Jahr. Möglicherweise hält auch die hohe Inflation länger an als erwartet.
Wer in den vergangenen Tagen die Wirtschaftsnachrichten verschiedener Medien überflogen hat, um sich ein Bild von den Konjunktur-Perspektiven für 2023 zu machen, könnte möglicherweise etwas irritiert sein. Denn auf den ersten Blick muten die Einschätzungen der Volkswirte und Wirtschaftsinstitute unterschiedlich an. Fast optimistisch liest sich da die Prognose des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (IfW): Die Ökonomen trauen der deutschen Wirtschaft 2023 ein zaghaftes Wirtschaftswachstum von 0,3 Prozent zu. Gleichzeitig gehen die meisten anderen Wirtschaftsexperten immer noch von einem Rückgang des Bruttoinlandproduktes (BIP) aus – wenn auch etwas weniger drastisch als noch vor einigen Monaten.
So etwa rechnen das Ifo München und das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung für 2023 nun mit einem Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,1 Prozent, während die Bundesbank mit einem Minus von 0,5 und die DZ-Bank mit einem Rückgang von knapp zwei Prozent rechnen. Diesen Einschätzungen zufolge könnte Deutschland zumindest eine tiefe Rezession erspart blieben. Der Grund für den verhaltenen Optimismus dürfte darin begründet liegen, dass der Staat mit Preisbremsen und milliardenschweren Entlastungspakten gegensteuert.
Belastungsprobe für die deutsche Wirtschaft
Dass es aber zu einer Rezession kommt, damit rechnet trotzdem das Gros der deutschen Unternehmen. Das legt zumindest eine aktuelle Umfrage des Warenkreditversicherer Atradius nahe. Demnach rechnet fast die Hälfte aller befragten Unternehmen (48 Prozent) mit einer wirtschaftlichen Stagnation im kommenden Jahr. Das sieht auch Frank Liebold, Country Director Germany bei Atradius, ähnlich: „Die derzeitige Wirtschaftslage dürfte zu einer weltweiten Stagflation im Jahr 2023 führen.“ Die Phase hoher Inflationsraten bei niedrigem Wirtschaftswachstum begründet er mit seiner Erwartung einer weiteren straffen Geldpolitik der Notenbanken: „Damit bleiben Firmenkredite teurer und die Zinsen für Unternehmensanleihen hoch. Die Unternehmen haben weniger Liquidität zur Verfügung, Investitionen werden verschoben und somit Produktionssteigerungen ausgebremst.“ Für Deutschland erwartet Frank Liebold 2023 deshalb einen Rückgang des BIP-Wachstums um 1,1 Prozent.
![Stefan Kooths, Wirtschaftsexperte beim Kieler Institut für Weltwirtschaft](/sites/default/files/inline-images/02_Wirtschaft_Deutschland_Rezession_BE_02.jpg)
Vorrangige Katerstimmung hat auch das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln auf seinem Radar: Nach einer aktuellen Umfragen unter Verbänden ist die Stimmung deutlich schlechter als 2021. Von 49 befragten Verbänden beurteilen 39 die aktuelle Lage ihrer Unternehmen schlechter als noch vor einem Jahr. 30 schauen darüber hinaus auch pessimistisch auf 2023 und gehen davon aus, künftig weniger zu produzieren. „Die Folgen des Kriegs in der Ukraine sind nach wie vor eine enorme Belastungsprobe für die deutsche Wirtschaft“, sagt IW-Konjunkturexperte Michael Grömling. „Die Unternehmen gehen nicht davon aus, dass die hohen Energiepreise in absehbarer Zeit wieder auf das Vorkrisen-Niveau sinken werden. Das trübt den Blick auf das kommende Jahr enorm.“ Besonders heikel ist die Situation für energieintensive Branchen: Ihr unternehmerischer Erfolg ist untrennbar mit bezahlbarer Energie verknüpft – und sie sind gleichzeitig wichtige Zulieferbranchen für andere Wirtschaftsbereiche.
Wirtschaftsschwächend wirken sich die anhaltenden Preissteigerungen aus. Schon vor dem russischen Einmarsch in die Ukraine ist die Inflation nach oben geklettert: Während die Inflationsrate ein Vierteljahrhundert lang stets unter zwei Prozent lag und sie wegen des Wirtschaftseinbruchs im Corona-Jahr 2020 sogar auf 0,5 Prozent gesunken war, stieg sie 2021 wider Erwarten auf 3,1 Prozent. Rasant nach oben geschnellt ist sie aber erst im vergangenen Jahr: Im Juli 2022 stieg die Inflation hierzulande auf 7,5 und im November auf zehn Prozent. Erst im Dezember sank sie wieder auf 8,6 Prozent. Die Wechselwirkungen von Lieferengpässen, Materialknappheit, hoher Inflation und drastisch gestiegener Energiekosten haben ihre Spuren hinterlassen. Die hohen Preise schwächen die gesamtwirtschaftliche Kaufkraft hierzulande. Denn die Realeinkommen für Unternehmer und Arbeitnehmer schrumpfen. Folglich ist weniger Einkommen für den Kauf von Konsum- und Investitionsgütern vorhanden, die in Deutschland oder von den europäischen Nachbarn produziert werden.
Ob die hohe Inflation 2023 merklich absinkt, bleibt fraglich
Für 2023 rechnen die Wirtschaftsexperten vom IfW Kiel mit einer Inflationsrate von „nur“ noch 5,4 Prozent. Allerdings sieht IfW-Vizepräsident Stefan Kooths die Gefahr noch lange nicht gebannt: „Die niedrigere Inflationsrate im kommenden Jahr wird über massive Subventionen teuer erkauft, die die Energie-Krise nur vordergründig mildern“, warnt er. Die Hilfen seien viel zu breit angelegt und erhöhten so an anderer Stelle den Inflationsdruck. „Das ist weder markt- noch stabilitätsgerecht.“ Die Krise lasse sich nicht durch Dauer-subventionen überbrücken, sondern muss an der Wurzel gepackt werden, führt er weiter aus. „Hierfür braucht es eine neue energiepolitische Strategie, die fundamental das Energieangebot stärkt und nicht fortwährend die Risse mit immer mehr Schulden zukleistert.“
Ob die von Kieler Volkswirten prognostizierte Senkung der Inflationsrate auf 5,4 Prozent in den kommenden Monaten tatsächlich eintritt, bleibt indes abzuwarten. Auch die Prognose der Europäischen Zentralbank (EZB), nach der die Inflation im Jahr 2025 wieder auf 2,3 Prozent fallen soll, ist mit Fragezeichen versehen. Der US-Investor Rob Arnott hat vor Kurzem keine besonders rosigen Zukunftsperspektiven in Aussicht gestellt. In einer gemeinsamen Analyse mit dem Finanzexperten Omid Shakernia hat Arnott für das Anlage-Portal „Research Affiliates“ berechnet, wie lange es in der Vergangenheit gedauert hat, hohe Inflationsraten von sechs Prozent oder mehr wieder auf unter drei Prozent abzusenken.
Die historische Erfahrung in den OECD-Ländern seit den 1970er-Jahren lässt den beiden Autoren zufolge weniger Optimismus zu als die derzeitigen Prognosen der EZB. Ein Inflationssprung auf vier Prozent sei oft vorübergehend, heißt es in dem Artikel „History Lessons: How ‚Transitory‘ Is Inflation?“. Schwieriger werde es, wenn die Inflation acht Prozent überschreite. Dann, so heißt es in dem Artikel weiter, dauere die Rückkehr zu drei Prozent in der Regel sechs bis 20 Jahre. Im Durchschnitt wären das dann mehr als zehn Jahre.