Die Beziehungen Deutschlands zu den Nachbarn sind immer sehr speziell. Im Moment knirscht es im deutsch-französischen Verhältnis. Auf der anderen Seite ist auch das Verhältnis zu Polen alles andere als einfach.
Der Charakter einer Beziehung zeigt sich besonders deutlich in einer Krise. Die deutsch-polnischen Beziehungen sind seit Jahren im dauerhaften Krisenmodus. Die Jahre 2020 bis 2022 werfen ein erhellendes Licht auf den Zustand des Nachbarschaftsverhältnisses. Besonders sichtbar wurden die Verhältnisse in Grenzregionen, wie das Beispiel des grenzüberschreitenden 80.000-Einwohner-Raums von Frankfurt/Oder und Słubice zeigt.
Am 24. März 2020 schloss die polnische Regierung – ohne Abstimmung mit der deutschen Seite – die gemeinsame Grenze für alle ausländischen Bürger. Polnische Bürger, die in das Land einreisten, mussten sich unverzüglich in zweiwöchige Quarantäne begeben. Davon ausgenommen waren lediglich Lkw-Fahrer und Angehörige von Polizei, Feuerwehr und Grenzschutz. Die polnische Regierung begründete die drastische Maßnahme damit, dass man die eigene Bevölkerung vor dem Coronavirus schützen müsse, das sich von Deutschland ausbreite.
Gereizt und genervt
Die Grenzschließung war ein Schock für die deutsch-polnische Doppelstadt, die Menschen fühlten sich von einem Tag auf den anderen in die Zeit vor 1989 zurück katapultiert. Linkes und rechtes Oderufer waren erneut voneinander getrennt, diesmal nicht durch einen eisernen Vorhang, sondern durch scharf bewachte Absperrungen. Tausende polnische Grenzpendler, die ihre Arbeit nicht verlieren wollten, mussten ihre Familien zurücklassen und sich auf der deutschen Seite eine Unterkunft suchen, deren Kosten vom Land Brandenburg erstattet wurden. Die Stadtoberhäupter von Frankfurt/Oder und Słubice, die sich nun nicht mehr regelmäßig treffen konnten, richteten eine wöchentliche Videoschalte ein, um sich über die Lage in ihren Städten zu informieren und ein gemeinsames Krisenmanagement zu etablieren. So wurden beispielsweise polnische Schüler, die sich mitten in den Vorbereitungen auf die Frankfurter Abiturprüfung befanden, in einem Internat in der Nähe untergebracht. Was die Beziehung zwischen beiden Städten erheblich belastete, war die Angst vor dem Virus. Genauer gesagt die Beobachtung, dass die Angst in Słubice erheblicher größer war als in Frankfurt. Und die Maßnahmen der polnischen Regierung trugen nicht dazu bei, mit der Angst rational umzugehen. Das Virus bekam eine Nationalität, es kam aus Deutschland und es machte allen bewusst, was man in der deutsch-polnischen Alltagsnormalität der vergangenen Jahre erfolgreich verdrängt hatte: Deutsche und Polen sind nicht gleich. „Die Deutschen“ stellen „die Polen“ in niedrig qualifizierten Jobs an und behandeln sie häufig auch entsprechend. Während sie von den Polen erwarten, dass sie ordentlich Deutsch lernen, sind sie selbst oft schon zufrieden, wenn sie „Dzień dobry“ (Guten Morgen) und „Dziękuję“ (Danke) aussprechen können.

Der gereizten Stimmung entgegen stellte sich ein kleiner, aber sehr aktiver Teil der Zivilgesellschaft, der auf beiden Seiten auf die Straße ging und eine vernunftgeleitete, abgestimmte Politik forderte und die Wiederöffnung der Grenze für grenzüberschreitende Familien, Schüler und Arbeitnehmer aller Branchen. Zugespitzt lautete die Kritik: Eine Grenze zu schließen, um eine Pandemie zu bekämpfen, ist genauso sinnlos, wie zu diesem Zweck zwischen dem linken und rechten Ufer der Spree oder der Weichsel eine Mauer zu errichten.
Am 13. Juni 2020 wurden die Grenzbarrieren endlich wieder abgeräumt. Um Mitternacht kamen über 500 Menschen beider Seiten auf der Stadtbrücke zu einer spontanen Feier zusammen und die beiden Stadtoberhäupter fielen sich – nicht coronaverordnungskonform – vor lauter Wiedersehensfreude in die Arme.
Der russische Angriff auf die Ukraine führte zur nächsten heftigen Meinungsverschiedenheit zwischen Deutschland und Polen über die richtige Strategie, wie der Ukraine zu helfen und zugleich Schlimmeres zu verhüten wäre. Dahinter trat ein weiterer wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Ländern zutage, den man in den Jahren seit 2004 vergessen hatte: Polen liegt 600 Kilometer weiter östlich als Deutschland, es hat eine Bedrohung aus Russland tief in der nationalen DNA einprogrammiert. Und fühlte sich nun bestätigt, als es praktisch über Nacht unmittelbar zum Nachbar eines Landes geworden war, gegen das Krieg geführt wird. Tatsächlich über Nacht? Die polnische Regierung hatte ihre Kommunen bereits mehrere Tage vor dem russischen Überfall angewiesen, Notunterkünfte für ukrainische Flüchtlinge bereitzuhalten. Im Rückblick äußerte der Frankfurter Oberbürgermeister, dass seine Stadt dank dieser Information von seinem Słubicer Amtskollegen schon eine Woche früher als andere deutsche Städte mit dem Aufbau von Hilfsstrukturen beginnen konnte. Auch hier unterstützten sich beide Städte mit Hilfsgütern, in Einzelfällen auch mit der grenzüberschreitenden Aufnahme von Flüchtlingen. Auf nationaler Ebene tat man sich in Deutschland eine Zeit lang schwer damit, der polnischen Gesellschaft für die Aufnahme von über zwei Millionen Geflüchteten die verdiente Wertschätzung zu zollen.
Eine ständige Herausforderung
Am 3. Oktober 2022 machte die polnische gegenüber der deutschen Regierung eine Reparationsforderung für die Schäden des Zweiten Weltkriegs in Höhe von 1,3 Billionen Euro auf. Diese Forderung wird nicht nur auf der deutschen Seite, sondern auch in einer polnischen Stadt wie Słubice von der großen Mehrheit als das bezeichnet, was sie ist: unhaltbar und vorrangig politisch motiviert. Zugleich erklärte die Bundesregierung, sie stehe zu ihrer historischen Verantwortung, einen Schlussstrich werde es nicht geben. Der Bundestag beschloss, in den Haushalten 2023 bis 2025 jeweils ein bis zwei Millionen Euro für den Polnischunterricht polnischer Einwandererkinder bereitzustellen. Der Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-polnische Zusammenarbeit, der SPD-Bundestagsabgeordnete Dietmar Nietan, wies im September 2022 in Potsdam noch auf einen anderen Aspekt hin: „Dass Deutsche Polnisch lernen, die Sprache des Nachbarn, der in Deutschland die nach den Türken zweitgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe stellt, muss genauso selbstverständlich werden wie umgekehrt, dass Polen Deutsch lernen.“
Kaum hatten Frankfurt und Słubice im Frühjahr 2022 zusammen 3.000 ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, da tauchte die nächste Katastrophe auf: tonnenweise toter Fische in der Oder aufgrund – teilweise genehmigter, teilweise illegaler – industrieller Einleitungen ins Wasser auf polnischer Seite, was zusammen mit dem niedrigen Wasserstand und dem heißen Sommer zu einer Kettenreaktion geführt hatte. Die neue Herausforderung für die deutsch-polnischen Beziehungen ist, den Interessenkonflikt in Sachen Umweltschutz auszutragen, ohne den Diskurs unter ein nationales Narrativ nach dem Motto „ihr Polen – wir Deutsche“ zu stellen. Auch hier zeigte sich, dass die kommunale deutsch-polnische Ebene der staatlichen ein gutes Stück voraus ist. Aus der Bilanz der Corona-Zeit mit der Grenzschließung hatten die deutsch-polnischen Doppelstädte und Euroregionen bereits im Juni 2021 die Etablierung eines dauerhaften gemeinsamen staatlichen Krisenmanagements gefordert. Bleibt zu hoffen, dass ein solches steht, bevor die nächste Katastrophe auf uns zukommt.
Der Autor lebt seit 2000 in Frankfurt/Oder. Er arbeitet im Bereich der deutsch-polnischen und internationalen Zusammenarbeit der Stadtverwaltung und ist Autor von drei Kriminalromanen, die in der Grenzregion spielen.