In diesem Jahr ist rund die Hälfte der Weltbevölkerung zu Wahlen aufgerufen. Nicht alle haben die Möglichkeit zu so freien Wahlen wie rund 350 Millionen Wahlberechtigte in der Europäischen Union. Für die geht es bei dieser Wahl um grundsätzliche Richtungsentscheidungen.
Noch ist das Wort von einer „Schicksalswahl“ eher selten zu hören. Das dürfte sich ändern. Ein bisschen zugespitztes Pathos gehört nun mal zu einem Wahlkampf. Aber selten zuvor war es so berechtigt wie in diesem Jahr.
Zum Start ins Europawahljahr 2024 zeigt sich die EU in ihrer gesamten Vielfalt, ihren Widersprüchen, Stärken und Schwächen, Unvollkommenheiten und gleichzeitig als das, was sie in der Welt zu einem derart faszinierenden, einzigartigen Projekt macht: ein demokratisch-freiheitliches Friedensprojekt.
Genau dieses steht derzeit aber unter einem massiven Druck, von außen und im Inneren. Beides hängt zusammen.
Seit zwei Jahren tobt wieder ein Krieg auf europäischem Boden. Die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten unterstützen die Ukraine massiv in ihrem Abwehrkampf und überziehen den russischen Aggressor mit einzigartig massiven Sanktionen. Mehr noch: Bewusstsein und Wille wachsen, eigene Fähigkeiten aufzubauen, um sich auch unabhängig von der transatlantischen Freundschaft verteidigen zu können. Der russische Überfall ist ausdrücklich eine Kampfansage an die Werte der freiheitlich-demokratischen Welt, explizit auch an die EU.
Dieser Kampf wird nicht nur auf dem militärischen Feld geführt. Desinformationskampagnen und die Unterstützung von Gegnern des bestehenden Systems sind eine weitere Strategie in diesem Kampf gegen „den Westen“. Offensichtlich kalkulierte der russische Präsident, mit seinem Überfall auf die Ukraine die EU in einer Schwächephase nach der Corona-Pandemie zu erwischen, die durch die erwartbare große Fluchtbewegung infolge des Überfalls noch verschärft würde. Damit hat er sich verkalkuliert.
Die Antworten Europas waren klar und eindeutig. Die große Zahl von Flüchtlingen fand Aufnahme auch in Ländern, die zuvor eine höchst rigide Flüchtlingspolitik betrieben hatten. Die Ukraine fand massive Unterstützung, die durch den Krieg ausgelöste Energiekrise führte keineswegs zum Zusammenbruch. Die Ukraine steht vor einem EU-Beitrittsverfahren, die Nato hat neue Mitglieder, die zuvor neutral waren.
Bedroht von innen und von außen
Das alles ging nicht ohne Knirschen ab, aber im Ergebnis bislang in einer beeindruckenden Einigkeit.
Die Abwahl der PiS-Partei in Polen ist da vielleicht ein weiterer Baustein. Daran zeigt sich aber auch, wie mühsam es ist, demokratisch-rechtsstaatliche Verhältnisse von einem autoritären Regime zurückzugewinnen. In der aktuellen Übergangsphase spricht Präsident Duda (PiS-Partei) gar vom „Terror der Rechtsstaatlichkeit“. Sprüche, die bei manchen Erinnerungen an die Erstürmung des Kapitols nach der Wahlniederlage von Trump wachrufen.
Während die Hoffnungen auf einem nach dem Regierungswechsel wieder europafreundlichen Polen liegen, bleibt Ungarns Ministerpräsident Orbán ein ständiger Unruheherd mit seiner eher russlandfreundlichen Haltung und dem Umgang mit dem Rechtsstaatlichkeitsprinzip.
Die große Sorge vor den Europawahlen gilt dem Erstarken rechtspopulistischer und rechtsextremistischer Parteien und Strömungen mit ihren europafeindlichen Haltungen.
Der Wahlsieg von Georgia Meloni in Italien ließ Ungutes erwarten nach allem, was ihre als „postfaschistisch“ bezeichnete Fratelli d’Italia im Wahlkampf von sich gab. Eine befürchtete „Orbánisierung“ Italiens blieb jedoch aus, Meloni zeigte sich überraschend europakonform. Zu Beginn des Wahljahres hat sich das Verhältnis zwischen Meloni und Brüssel deutlich verändert. Es gibt Streit ums Geld und um rechtsstaatliche Fragen.
In den Niederlanden hat der Rechtspopulist Geert Wilders die Wahlen im letzten November zwar deutlich gewonnen, ob er aber eine Regierungskoalition zusammenbringt, ist weiterhin offen. In den Niederlanden kann so etwas dauern, nach der vorigen Wahl mussten die Bürger über 270 Tage warten.
In Spanien hat sich der sozialistische Regierungschef Pedro Sánchez beim Risiko vorgezogener Neuwahlen am Ende durchgesetzt, auch wenn die konservative PP stärkste Partei wurde. Bemerkenswert sind die deutlichen Stimmenverluste der rechtspopulistischen Vox. Und bemerkenswert ist auch, dass trotz der Wirren um die Regierungsbildung unter der turnusgemäßen EU-Ratspräsidentschaft Spaniens in der zweiten Hälfte des letzten Jahres noch wegweisende Entscheidungen für die EU beschlossen wurden. Dazu zählen die Eröffnung der Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine und Moldawien, ein neuer Rechtsrahmen für Migration und Asyl und eine Regulierung im Bereich der Künstlichen Intelligenz.
Der Migrations- und Asylkompromiss war lange heftig umstritten, aber schließlich herrschte Einigkeit, dass das emotional behaftete Thema vor dem Wahlkampf geklärt sein müsste.
Dieses halbe Jahr unter spanischer Ratspräsidentschaft hat einmal mehr ein erstaunliches Bild der EU gezeigt, die derart komplexe und lang diskutierte Themen beschließen kann. Das hatten viele Beobachter wegen der widrigen Umstände – Ratspräsidentschaft eines Landes, das mitten in der eigenen Regierungsneubildung steckt, dazu großer äußerer (Zeit-)Druck – kaum erwartet.
„Wertegemeinschaft verteidigen“
Die beiden großen Player Deutschland und Frankreich stehen derzeit unter dem Eindruck, ihre frühere Führungsrolle als deutsch-französische Achse nicht in dem Maße wahrzunehmen, wie es von vielen erwartet wird. Sie seien, so die Kritik, zu sehr mit inneren Herausforderungen in Beschlag genommen. Emmanuel Macron hat erst zu Jahresbeginn die Regierung umgebildet und hofft auf neue Impulse vom bislang jüngsten französischen Regierungschef, dem 38-jährigen Stéphane Séjourné. Die deutsche Ampel-Koalition ist durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Schuldenbremse gezwungen, ihre Haushaltspläne in kürzester Zeit komplett neu zu gestalten, mit entsprechenden Verwerfungen. Beide Länder sehen sich zudem vor einer vergleichbaren Herausforderung durch Rechtspopulisten und Rechtsextreme, eine Entwicklung, die in vielen EU-Staaten in unterschiedlichen Ausprägungen festzustellen ist.
Jean-Claude Juncker, 20 Jahre lang Luxemburgs Außenminister und damit der dienstälteste und erfahrenste in der EU, bis er im vergangenen Jahr nach dem Regierungswechsel ausschied, hat vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen im Gespräch mit der „Süddeutschen Zeitung“ eine klare Botschaft formuliert, nämlich „dass wir unsere Wertegemeinschaft verteidigen und zusammenstehen müssen und uns nicht auseinanderziehen lassen, wie das jetzt die Populisten versuchen zu tun“.
Was bei all diesen Szenarien leicht untergeht, sind große ehrgeizige Projekte, mit denen sich die EU angesichts der globalen Herausforderungen an die Spitze setzt, allen voran der „Green Deal“, das große Ziel, der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Der Weg dorthin bleibt weiter heftig umstritten, und die Mitgliedstaaten gehen auch unterschiedliche Wege, aber das große Ziel steht.
Es ist eines der ehrgeizigsten Projekte von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die war bekanntlich nach der letzten Wahl in einem ungewöhnlichen Verfahren zu ihrer neuen Aufgabe gekommen. Ende letzten Jahres wurde sie zum zweiten Mal in Folge vom Magazin „Forbes“ zur „mächtigsten Frau der Welt“ gekürt. Ob sie diesmal zur Wahl antritt, ist noch offen, auch wenn das allgemein erwartet wird und manche Kommentatoren sich schon fragen, wer sie ernsthaft herausfordern könnte. Der Luxemburger Nicolas Schmit, derzeit EU-Arbeits- und Sozialkommissar, will es als europäischer Spitzenkandidat für die Sozialdemokraten versuchen.
Die Spitzenkandidaten in Deutschland sind Manfred Weber (CSU) für die Union, Katarina Barley für die SPD, Marie-Agnes Strack-Zimmermann für die FDP, Terry Reintke für die Grünen. Die Linke geht mit Carola Rakete und Gerhard Trabert (beide parteilos) in den Wahlkampf und die AfD mit Maximilian Krah.