Europa ist „ein vielfältiger Kontinent“. Die Wahl im Juni wird darüber entscheiden, „in welchem Europa wir leben wollen“, sagt Manfred Weber, Partei- und Fraktionschef der christdemokratischen EVP. Er plädiert für eine klare Unterstützung der Ukraine, engere militärische Zusammenarbeit in der EU und andere Wege zur Klimaneutralität.
Herr Weber, zum Start ins Europawahljahr wollten wir gern über die Bilanz der letzten Jahre reden. Spannender ist aber eigentlich, vor welchen Herausforderungen wir jetzt stehen.
Die Bilanz ist wichtig, weil Europa in den letzten fünf Jahren durchgeschüttelt und durchgerüttelt wurde durch die Covid-Pandemie und den Kriegsbeginn in der Ukraine. Dass Europa in diesen fünf Jahren zusammengehalten und die Aufgaben gemeinsam angegangen ist, ist ein gutes Signal für die Zukunft und die Aufgaben, die vor uns stehen. Und mit etwas Stolz darf man als Europäer darauf hinweisen, dass wir bei Green Deal, der Ökologisierung, dem Klimaschutz, dem Artenschutz, wesentliche Schritte in die Zukunft gegangen sind. Europa ist der Kontinent, der die Generationenaufgaben wie Klimaschutz anpackt, und da geht Europa für die Weltgemeinschaft voran.
Gleichzeitig gibt es die bekannten Fliehkräfte, die nicht geringer geworden sind.
Europa ist sehr komplex, wir sind ein vielfältiger Kontinent. Sie haben Recht, das fordert uns heraus. Ganz aktuell geht es für die Europawahl um die Grundsatzfrage, ob wir die Idee des Miteinanders weiter praktizieren können. Nationalisten und nationalkonservative Kräfte sind auf dem Vormarsch. Es geht darum, ob wir den Weg des Miteinanders weitergehen wollen, und die Frage: Bleibt Europa zusammen? Das ist eine Frage der Selbstbehauptung für die EU-Staaten in einer immer rauer werdenden Welt. Auch Deutschland ist alleine nicht mehr stark genug beispielsweise mit Blick auf China.
Wir stehen kurz vor dem zweiten Jahrestag des Krieges in der Ukraine. Es gibt Kräfte, die die Unterstützung der Ukraine mit einem Fragezeichen versehen. Wie schätzen Sie es ein?
Ich bin überzeugt, dass die überwiegende Zahl der Menschen auf diesem Kontinent will, dass die Ukraine ein freies und demokratisches Land ist und dass die Ukraine diesen Krieg für sich und für diese Werte gewinnt. Dass die Europäerinnen und Europäer das wollen, spüren wir auch daran, dass ganz Europa, nicht nur wir in Deutschland, so viele Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen hat. Die Tschechen und die Esten sind führend bei der Aufnahme im Vergleich zur eigenen Einwohnerzahl. Dass die Solidarität, die Unterstützung enorm ist, daran gibt es aus meiner Sicht keine Zweifel. Die Unterstützung und gleichzeitig der Friedenswunsch, das ist das Spannungsfeld, in dem wir uns befinden. Für mich ist klar: Wir werden Frieden mit Russland nur bekommen, wenn die europäischen Staaten eine Position der Stärke haben. Deshalb die Unterstützung der Ukraine, finanziell und militärisch. Notwendig ist jetzt auch der Aufbau von militärischen Kapazitäten auf europäischer Ebene, dass wir verteidigungsfähig werden.
Europäische Zusammenarbeit und Integration in diesem Bereich ist ja schon lange ein großes Thema. Gibt es jetzt unter dem Druck Fortschritte?
Wir kommen voran, aber viel zu langsam. Europäische Zusammenarbeit im militärischen Bereich wäre auch für die Steuerzahler ein Riesenvorteil, weil wir Gelder sparen, wenn wir sie nicht 27-mal ausgeben, sondern das miteinander machen. Ich nenne beispielsweise Cyber Defence, also Verteidigung Europas im digitalen Bereich. Es gibt kein nationales Internet, also kann man da vieles auch gemeinsam machen. Auch bei Raketenabwehrsystemen macht es Sinn, zu kooperieren, gerade im deutschen Interesse, weil es sinnvoll ist, Raketen bereits frühzeitig abzufangen. Deshalb müssen wir auch den Schritt zu einem europäischen Binnenmarkt für Rüstungsgüter gehen und endlich bei der Beschaffung kooperieren. Das würde viel Geld sparen. Und der zweite Punkt ist langfristig der Aufbau einer europäischen Armee und einer europäischen Verteidigungsstruktur. Das ist die Hauptaufgabe für die nächsten Jahre, um das Kernversprechen Europas zu halten, nämlich Frieden sichern. Wenn wir das wollen, brauchen wir eine Position der Stärke.
Gleichzeitig haben wir seit dem 7. Oktober den Konflikt im Nahen Osten. Warum hat sich Europa schwergetan, mit einer Stimme zu sprechen?
Für mich ist klar: Zunächst steht das Selbstverteidigungsrecht Israels. Israel wurde mit einem brutalen, menschenverachtenden Terrorüberfall angegriffen. So wie wir nach den Attentaten von Brüssel, Paris, Berlin das Recht hatten, gegen islamistische Terroristen vorzugehen, hat Israel das Recht, sich zu verteidigen. Gleichzeitig ist Europa aber auch der Kontinent, der humanitäre Hilfe im Gazastreifen massiv ausgebaut hat. Wir sind bereit, zu helfen. Beide Seiten sind wichtig: das Selbstverteidigungsrecht und die Humanität im Gazastreifen.
Kann Europa in einem möglichen Friedensprozess eine Rolle spielen, und wenn ja, welche?
Wir müssen zunächst abwarten, wie sich die militärische Lage weiterentwickelt. Gleichzeitig müssen wir immer auf der diplomatischen Ebene ein Ansprechpartner sein, uns dabei eng mit den Amerikanern abstimmen. Gemeinsam haben wir die Möglichkeit zum Einfluss und können diplomatische Lösungen anstoßen. Heute spielt die EU eine zu geringe Rolle und muss an ihrer Einigkeit bei der Außenpolitik arbeiten. Wir müssen uns dabei schon bewusst machen, dass es eine Zusammenarbeit der destruktiven, der gewaltbereiten Kräfte gibt: Hamas, Hisbollah und dahinter der Iran, und dahinter steht wiederum eine Kooperation mit Russland. Diese destruktive, gewaltbereite Achse ist eine Herausforderung für Europa. Wir müssen alles tun, die einzudämmen.
Sie haben das große Projekt der EU, den Green Deal, bereits angesprochen. Der Eindruck ist: Im großen Ziel gibt es Einigkeit, der Weg dorthin ist weiter heftig umstritten.
Exakt. Aber wir müssen auch über den Weg streiten, weil er komplex und herausfordernd ist. Bei dem Ziel sind wir uns einig, bis 2050 klimaneutral zu werden. Da stehen die 27 Mitgliedsstaaten und die beiden wesentlichen parlamentarischen Fraktionen, EVP und Sozialdemokraten, dahinter. Beim Weg dorthin gibt es strittige Fragen, zum Beispiel bei der Technologie. Die Entscheidung, den Verbrenner unabhängig von der Technologie zu verbieten, war eine Fehlentscheidung. Wenn wir in der nächsten Legislaturperiode eine bürgerliche Mehrheit im Parlament haben, werden wir die Revisionsklausel, die in dem Gesetz vorgesehen ist, ziehen. Die Technologie muss entscheiden, auf welchem Weg wir die Klimaneutralität erreichen. Auch in dem zweiten großen Bereich, Agrar- und Landwirtschaft, werden wir Gesetze, die wir als EVP nicht mitgetragen haben, weil sie ideologisch geprägt und nicht an der Sache orientiert waren, revidieren. Der Weg ist also strittig, das ist aber in einer Demokratie auch gut so, dass man um den richtigen Weg ringt.
Wo bleibt neben der Ökonomie und der Ökologie das soziale Europa?
Europa kann nur funktionieren, wenn es nicht nur Markt, sondern soziale Marktwirtschaft ist. Das ist das Grundprinzip, nach dem Europa funktioniert. Wir als EVP wollen keine Gemeinschaft von Sozialsystemen, das muss und soll getrennt in den Mitgliedsstaaten bleiben. Aber es gibt trotzdem gemeinsame soziale Aufgaben. Die Wirtschaftsstruktur ist europäisiert, ja globalisiert, gleichzeitig ist aber die Gewerkschaftsstruktur, die Möglichkeit, dass sich die Arbeitnehmerschaft in die Gespräche einbringt, noch nicht so stark europäisiert. Daran müssen wir arbeiten. Das Zweite ist: Wir müssen einen offenen Blick auf die sozialen Wirkungen eines offenen Binnenmarktes haben. Ein Beispiel: Allein in Deutschland sind rund 300.000 Pflegekräfte zumeist aus Osteuropa in privaten Haushalten tätig. Die helfen, die Pflegeaufgaben zu bewältigen. Aber in Deutschland würde ein 24-Stunden-Dienst in dieser Form eigentlich niemals akzeptiert. Wir müssen also über Sozialstandards reden. Das gilt auch für die Logistik. Da sind Tausende Lkw-Fahrer überwiegend aus Osteuropa tätig, die oft monatelang ihre Familie nicht sehen. Auch darüber müssen wir reden. Wir sind für Markt, wir sind für Wettbewerb, aber es darf nicht auf Kosten der Schwachen gehen.
Es heißt, Europa wird vor allem in den Grenzregionen lebendig. Gleichzeitig haben wir den Eindruck, dass die Anliegen der Grenzregionen mit ihren konkreten Erfahrungen oft nicht so im Blick sind wie die großen Fragen, über die wir bereits gesprochen haben. Täuscht der Eindruck?
Ich komme selbst aus einer Grenzregion (zur Tschechischen Republik, Anm. d. Red.). Grenzregionen sind der Test für Europa. Dort wird entschieden, ob Europa funktioniert. Die Menschen dort wissen, was Europa bedeutet, im Positiven, aber auch mit den Herausforderungen, die damit verbunden sind. Ich teile Ihre Auffassung: Wir müssen uns wieder mehr um diese grenzüberschreitende Zusammenarbeit kümmern. Europa hat die Rahmen gesetzt. In den Regionen können wir Lösungen für gemeinsame Herausforderungen finden. Mein Fingerzeig würde da eher in Richtung Berlin und Paris gehen, dass man den Regionen mehr Freiräume gibt, eigenständige Lösungen zu finden, etwa im Gesundheitswesen, dem Rettungsschutz, dem Nahverkehr. Grenzregionen können das, sind kreativ genug, aber dazu brauchen sie auch die Freiräume.
Der Aachener Vertrag sollte aber genau das zumindest zwischen Deutschland und Frankreich ermöglichen.
Das ist richtig. Aber es scheitert häufig am Detail, an Auslegungen auch von nationalem Recht. Wir brauchen viel mehr Freude an der Vielfalt von regionalen Ansätzen. Lösungen an der deutsch-französischen Grenze sind sicher andere als an der bayerisch-tschechischen. Wir müssen in den Regionen mehr Eigenleben zulassen.
Über Deutschland und Frankreich und den stotternden europäischen Motor ist bereits viel diskutiert worden. Nach der Wahl in Polen wird auch wieder über das „Weimarer Dreieck“ gesprochen. Wie sortieren sich die Kräfte in der EU?
Europa ist gewachsen, wir feiern 20 Jahre EU-Erweiterung nach Mittel- und Ost-Europa. Aber klar ist: Bei allen großen Entwicklungen geht nichts ohne die deutsch-französische Partnerschaft. Wir haben aktuell mit Emmanuel Macron und Olaf Scholz zwei Männer an der Spitze beider Länder, die sehr stark mit innenpolitischen Fragen beschäftigt sind. Das Bekenntnis beider zur Stärkung Europas ist da, aber zu den großen strukturellen Fragen Europas kommen leider keine substanziellen Initiativen, zum Beispiel beim Ausbau der Verteidigungsbereitschaft oder der Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips in der Außenpolitik, um nicht weiter abhängig zu sein von Leuten wie Orban. Das würde ich mir aber wünschen. Die beste Antwort auf Rechtspopulismus und Linkspopulismus, gegen aggressive Kräfte an den Rändern, wäre Führung aus der Mitte heraus, die Orientierung gibt. In Polen ist die Rückkehr zu demokratischen und freiheitlichen Prinzipien mit großen Herausforderungen verbunden, aber die Polen haben ein klares Wort pro Europa und pro Rechtsstaat gesprochen. Wenn es gelingen würde, die Achse Deutschland-Frankreich-Polen, das Weimarer Dreieck, wieder zu beleben, dann wäre es für Europa eine echte Perspektive.
Was werden aus Ihrer Sicht die großen Themen im Wahlkampf sein?
Wir als Europäische Volkspartei werden mit zwei großen Themen in den Wahlkampf gehen. Erstens das große europäische Versprechen zu halten, Frieden zu sichern. Deshalb müssen wir über Verteidigung sprechen, über Abschreckung, und wir müssen unseren europäischen Pfeiler jetzt starkmachen, dass wir – vor dem Hintergrund der amerikanischen Präsidentschaftswahlen – uns im Zweifel auch alleine verteidigen können. Das zweite große Thema ist Wohlstand, also wie können wir die wirtschaftliche Basis Europas stärken. Wir haben in den letzten fünf Jahren viel für die ökologische Modernisierung gemacht. Das war richtig, wichtig und notwendig. Aber jetzt müssen wir das ergänzen durch eine Wettbewerbsstrategie. Aus dem Green Deal müssen jetzt Patente entstehen, Produkte und Arbeitsplätze. Da sind wir noch nicht so gut, wie wir sein wollen.
Bei der letzten Wahl haben wir erstmals einen Wahlkampf mit Spitzenkandidatinnen und Kandidaten gesehen. Am Ende kam es dann bekanntermaßen doch anders. Wie wird es diesmal laufen?
Die Europäische Volkspartei (EVP) wird Anfang März ihren Spitzenkandidaten benennen. Wir haben das Privileg, dass wir mit Ursula von der Leyen derzeit eine gute Kommissionspräsidentin haben. Wir werden den Wählern ein klares Angebot, personell und in der Sache, machen.
Die Wahlbeteiligungen sind zwar bei den letzten Europawahlen gestiegen, aber bei knapp 62 Prozent ist noch Luft nach oben. Was macht die Wahl in diesem Jahr so bedeutsam?
Es geht darum, in welchem Europa wir leben wollen. In einem selbstbewussten, verteidigungsfähigen und wirtschaftlich starken oder einem Europa, in dem, wenn ich so formulieren darf, in weiten Teilen Ideologie und Nationalismus herrscht. Wir dürfen uns von den Rechtsradikalen unser Europa nicht kaputt machen lassen. Um diese Grundsatzfragen geht es. Deshalb mein Appell, die Wahl ernst zu nehmen und für Europa zu stimmen.