So zerbrechlich und dünnhäutig, so stark und voller Lebensmut hat man Jennifer Lawrence lange nicht auf der Leinwand gesehen. In dem Psycho-Drama „Causeway“ zeigt sie beeindruckend, welch nuancierte SchauÂspielerin sie ist. Zu sehen ist der Film bei Apple TV+.
Die US-Soldatin Lynsey (Jennifer Lawrence) sitzt wie eine kaputte Gliederpuppe auf dem Bett. Ihr Blick geht ins Leere. Sie ist emotionslos, katatonisch. Sie ist zurück aus Afghanistan, wo sie eine Sprengfallen-ÂExplosion nur knapp überlebt hat. Seitdem leidet sie unter einer traumatischen Gehirnverletzung. Sie hat Panikattacken, Albträume und ist oft völlig orientierungslos. Außerdem hat sie große Erinnerungslücken. Ohne die Hilfe einer Krankenschwester kann sie sich weder die Zähne putzen noch selbst an- oder ausziehen. Mühsam muss sie wieder lernen, zu gehen. Langsam, sehr langsam gleitet Lynsey wieder zurück in den Alltag in New Orleans. Sie lebt im Haus ihrer trinkfreudigen Mutter (Linda Edmond), von der sie weder Verständnis noch emotionalen Beistand bekommt. Um diesem tristen Dasein so bald wie möglich wieder entfliehen zu können, versucht Lynsey ihren Psychotherapeuten davon zu überzeugen, sie sei körperlich und mental schon vollkommen fit – für einen weiteren Einsatz in Afghanistan. Der sieht das allerdings ganz anders und vertröstet sie auf später. Um die Zeit zu überbrücken, sucht sie sich einen Job und reinigt Swimmingpools. Um immer rechtzeitig vor Ort zu sein, leiht sie sich einen Pick-up-Truck, der allerdings bald den Geist aufgibt. Kurzentschlossen bringt sie ihn in eine Reparaturwerkstatt. Dort lernt sie den schwarzen Mechaniker James (Brian ÂTyree Henry) kennen. Lynsey ist von dessen freundlicher und sanfter Art sehr angetan und freundet sich mit ihm an. Doch auch James muss ein Trauma verarbeiten. Bei einem Autounfall, den er verschuldet hat, kam sein Neffe auf dem Lake Pontchartrain Causeway – einer 24 Meilen langen Brücke über einen See – ums Leben. James verlor bei dem tragischen Unfall ein Bein.
Geschichte über Lebensmut
Aber Entwarnung: „Causeway“ ist ganz sicher kein langweiliger, sentimentaler oder Mitleid heischender Downer! Sondern ein leises, aber dadurch umso intensiveres Psychogramm zweier scheinbar verlorener Seelen, die sich gegenseitig dabei helfen, wieder ins Leben zurückzufinden. „Causeway“ berührt Verletzungen, die weitaus tiefer reichen als Lynseys Schädeltrauma oder James’ amputiertes Bein. Es ist eine Geschichte über Schmerz, Trauer, Lebensmut und Freundschaft, erzählt mit großer Empathie und Sensibilität. Möglich gemacht hat das die amerikanische Regisseurin Lila Neugebauer, die ihre beiden Hauptdarsteller Jennifer Lawrence und Brian Tyree Henry dezent natürlich in Szene setzt. Und sie gibt ihnen auch genügend Freiraum, um die facettenreichen Figuren völlig unaffektiert zu entwickeln. Das Zusammenspiel der beiden ist bemerkenswert harmonisch und einfühlsam.
Besonders Jennifer Lawrence packt einen von der ersten bis zur letzten Minute mit ihrer rohen, ungeschminkten, ungeglätteten und zurückgenommenenPerformance. Die Wirkung, die sie damit erzielt, ist phänomenal. Das ist beeindruckend pure, ehrliche Schauspielkunst. Mit „Causeway“ kehrt Jennifer Lawrence wieder zu ihren Anfängen zurück, zu „Winter’s Bone“, dem düsteren Independent-Drama, mit dem sie 2010 ihren internationalen Durchbruch hatte. Damals war sie die 17-jährige Ree Dolly, die verzweifelt versuchte, ihre verarmte Familie in den winterkalten Ozark-Bergen über Wasser zu halten. Für diese Rolle bekam Lawrence mit gerade einmal 20 Jahren ihre erste Oscar-Nominierung. Und auch diesmal müsste sie, wenn alles mit rechten Dingen zugeht, für die Rolle der Lynsey in „Causeway“ für einen Oscar in der Kategorie „Beste Schauspielerin“ nominiert werden.
Unaufgeregter Film, der berührt
Filme mit einer guten Story, in der es um echte Menschen geht, die sich schicksalhaft begegnen, sind selten geworden. Wenn das dann noch kein bisschen aufgesetzt, sondern total authentisch und völlig unaufgeregt gezeigt wird, ist das eine echte Wohltat. Endlich werden wieder einmal die eher intimen Register bedient, und das ist nach den vielen lauten und grellen Filmen absolut sehenswert. Wer meint, es gäbe so gut wie keine relevanten Arthouse-Filme mehr, weil sie seit den 1990er-Jahren ausgestorben seien, wird hier fündig. Für Jennifer Lawrence, die während der Dreharbeiten zu „Causeway“ schwanger war, hat sich ein Kreis geschlossen: „Es war ein Lebensabschnitt, in dem ich mich oft auch hilflos und verletzbar fühlte. Vielleicht konnte ich mich auch deshalb so gut in Lynsey einfühlen. ‚Causeway‘ ist auf jeden Fall ein extrem persönlicher Film für mich. Jedes Mal, wenn ich ihn mir ansehe, geht er mir ans Herz.“ Und wenn man sich als Zuschauer wirklich darauf einlässt, wird es einem nicht anders ergehen.