Dietloff von Arnim, mit zwei Metern Körpergröße und als DTB-Präsident ein mächtiger Mann, will das deutsche Tennis zu neuer Bedeutung führen. Der mitgliederstärkste Tennisverband der Welt hat ein Problem, wenn es darum geht, Spieler in die internationale Spitze zu begleiten.
Zeit für eine Bestandsaufnahme einer einst großen Tennisnation, deren Idole des vergangenen Jahrhunderts natürlicherweise keine Nachahmer-Welle mehr auslösen. „Boris Becker, Steffi Graf – wer ist das?“ Eine Frage, die für Menschen, die in den 1980er- und 1990er-Jahren ihr Herz für Tennis entdeckt haben, so etwas wie Blasphemie ist. Für junge Menschen ist es aber keine Frage, dass sie nicht mehr wissen können, wer die deutschen Tennisikonen vor der Jahrtausendwende waren. Ihnen ist es egal, was die einstigen Rekord-Spieler, die mit 17 Jahren ihre ersten Grand-Slam-Titel eroberten, für das Ansehen Deutschlands als Tennisnation bewirkten.
Für Talente und Sport-Fans unter 20 Jahren ist das Heute ihre Gegenwart. Und da gibt es keinen „Leimener“ und keine „Gräfin“. Da zählt, wer und was aktuell Aufmerksamkeit erregt und gewinnt. Was in den Schulen als Sport angeboten und – bis hin in die Abiturnoten – wertgeschätzt wird. Was sich in Universität und berufliche Ausbildung integrieren lässt, mit Sehnsuchtsblick auf den Stellenwert auch von Tennis in amerikanischen Colleges.
Man könnte junge Menschen von der Straße fragen. Oder die ganz jungen Spieler, die sich um die Auswahl der Kader des Deutschen Tennisbundes (DTB) tummeln. Die schon mit Kritik überzogen werden, bevor sie überhaupt ihr Können zeigen und „mental health“, also ein gesundes Selbstbewusstsein, entwickeln konnten. Die dennoch in der Tenniswelt des 21. Jahrhunderts mit selbstquälerischem Fleiß an ihrer Fitness und ihrem Durchhaltevermögen feilen.
„Das ist das Tennis der Zukunft“
Der DTB-Präsident wird sicherlich manchen fragen, von dem die Öffentlichkeit nichts erfährt, wo’s hakt beim Aufsteigen in die Spitze der Welt, mit einer breiten Top-Talente-Gruppe aus deutschen Landen. Viel weiß Barbara Rittner, die erste Bundestrainerin des Deutschen Tennisbundes, die aus ihrer praktischen Arbeit mit den deutschen Spitzenaspiranten treffsicher analysiert. „Den Return sehr früh nehmen, ist das Tennis der Zukunft“, sagte Rittner beispielsweise über Carolin Garcia und deren sehr schnelle Augen-Hand-Koordination. So schaltete Garcia doch noch Laura Siegemund in der dritten Runde der Australian Open aus. So machen es derzeit international hochschießende Spielerinnen, um den kleinen Unterschied in der global hohen Leistungsdichte der Top-200-Profispielerinnen herauszuholen. Rittner bezieht derartige Feinheiten in ihre tägliche Arbeit mit angehenden Spitzensportlern ein, bricht sie aufs nationale Level herunter.
Im deutschen Fernsehen kündigte der Verbandschef an, dass er das ehemalige „Head of Tennis“ des Deutschen Tennisbundes, Boris Becker, im Zuge einer Bestandsaufnahme befragen will. Nachdem dieser nach mehrmonatiger „Auszeit“ wieder auf freiem Fuß und in Deutschland ist.
„Ich bin auf Ihre Analysen auch gespannt“, sagte von Arnim auf Eurosport zu Becker, der als Experte den letzten Tag der Australian Open mitkommentierte und von Arnim mit interviewte. „Wir müssen uns im deutschen Tennis schon überlegen, was machen wir richtig, was machen wir falsch.“
Der DTB-Präsident kündigte bei Eurosport eine Bestandsaufnahme an. Denn: „Das kann nicht der Anspruch des deutschen Tennis sein. Wir waren schon mal deutlich besser.“ Bei Herren und Damen, betonte von Arnim.
Aryna Sabalenka, die neben Fitnessfinessen lange Fotostrecken und das Leben jenseits des Courts für sich entdeckt hat, gewann das Finale gegen die Kasachin und Wimbledon-Gewinnerin Elena Rybakina. Nach einer Aufholjagd und unter neutraler Flagge. Sie ist Belarussin.
Von einem Grand-Slam-Finale sahen sich bei den Australian Open die deutschen Damen und Herren weit entfernt. Die Bilanz ist ernüchternd. Acht Spielerinnen und Spieler schieden nach der ersten Runde aus. Alexander Zverev nach der zweiten. Nur Laura Siegemund hätte es mit einer löwinnenstarken Leistung in der dritten Runde beinahe noch in die zweite Woche, ins Achtelfinale geschafft. Einzig Doppelspieler Andreas Mies hielt mit seinem neuen Doppelpartner bis ins Viertelfinale durch.
Angelique Kerber und Kevin Krawietz waren in Melbourne gar nicht erst dabei: Dreimal gewann „Angie“ ein Grand Slam. Jetzt freut sie sich auf ihr Baby. Die 35-Jährige will später zurück auf die Tour. Doch ein Grand-Slam-Sieg dürfte nicht mehr drin sein. Krawietz, der zweimal mit Mies die French Open im Doppel gewann, wurde während des Turniers Vater. Die letzten Matches durfte Sohn Theo aus der Ferne bereits mitansehen beziehungsweise anhören.
Dumm nur, dass in der zweiten Woche eben niemand mehr von den zehn Hauptfeld-Einzelspielern aus Deutschland im Turnier war. Hier eine schwierige Auslosung, dort ein schlechter Tag, Verletzungspech, Energie nicht so erfolgreich nachgefüllt wie der Gegner, die falsche Taktik in engen Situationen? Die Australian Open stehen exemplarisch mit den situativen Begründungen fürs immer wieder frühzeitige Ausscheiden deutscher Spieler bei großen Turnieren. Doch was soll Tennisdeutschland machen, damit auch in gut laufenden Partien die Gegner nicht immer noch eine Portion Extra-Esprit herausholen und sich aus der Bedrängung durch deutsche Spielerinnen befreien? Wo steht sein Tank, sein Strategiepool?
Ein paar Rezepte dürfte Laura Siegemund parat haben. Zwei Stunden lang focht die ehemalige Nummer 27 der Weltrangliste eine Spitzenpartie mit der Französin Carolin Garcia aus. Dann war auch für die Metzingerin Schluss. Vielleicht auch mit ihrer Einzelkarriere. Denn schon nach ihrer ersten Runde sagte die studierte Psychologin, die lange verletzt und davor unter den Top 60 der Welt gewesen war: „Ich wollte mein Protected Ranking nutzen, ein letztes Mal. Einfach Spaß haben, wenn ich hier im Einzel spiele. Ich wollte nicht mit Position 150 irgendwas wieder in den ITFs mein Ranking polieren, wollte mir das nicht mehr geben.“ Stattdessen war der Plan der 34-Jährigen, sich auf Doppel-Partien auf der Profitour zum Ausklang der Karriere zu konzentrieren.
Alexander Zverev, eigentlich Top-Ten-Spieler, zeigte sich nach einer langwierigen Bänderverletzung noch nicht ganz fit. Der 25-Jährige schied in der zweiten Runde aus.
Jule Niemeier, Jahrgang 1999, Nummer 71 der WTA-Liste und Wimbledon-Viertelfinalistin, hatte wieder mal das Pech, auf Iga Swiatek zu stoßen. Diesmal nicht im Achtelfinale, wie bei den US Open, sondern gleich in der ersten Runde. Die Dortmunderin ist eine, die das Erbe der zurückgetretenen Andrea Petkovic und Julia Görges antreten kann. Gut und direkt kam sie vor fast ausverkaufter Riesenkulisse ins Match rein, hätte in ihrer guten Tagesform die Weltranglisten-Erste aus Polen nach Hause schicken können. Im zweiten Satz schlug Jule bereits bei 5:3 zum Satzgewinn auf. Doch dann servierte die 24-Jährige nur noch mit 140 statt weiter mit 180 Kilometern pro Stunde. Swiatek nutzte diese Chance. Als Weltranglisten-Zweite Ons Jabeur am Folgetag ein langweiliges Match spielte, in dem sie ihre Möglichkeiten übersah, seufzte Rittner: „Mensch, Jule, was hast Du für ein Pech mit Deiner Auslosung gehabt.“
In den entscheidenden Momenten will es nicht klappen
An ihrem 21. Geburtstag machte sich Eva Lys selbst ein Geschenk: Nach drei Qualifikationsrunden zog die gebürtige Kiewerin, die als Zweijährige nach Deutschland gekommen war, ins Hauptfeld ein. „Ich fühle mich sehr selbstbewusst auf dem Platz, ich weiß, was für ein Potenzial ich habe“, sagte sie nach ihrer Dreisatzniederlage. Handgelenksschmerzen, nachlassende Aggressivität („Ich bin kein Roboter“) vermasselten der Nummer 122 der Welt das Weiterkommen. Aber vorerst nur in Melbourne. Von Eva mit dem beeindruckenden Abi-Zeugnis wird noch zu hören sein. Auch wenn es „fatal“ gewesen sei, dass sie den Rhythmus verloren habe, sagte Lys: „Es ist dennoch das erfolgreichste Turnier meiner Karriere. Ich habe das Level, mir fehlt nur die Erfahrung.“
Schnelle Returns der US-Open-Siegerin von 2021, Emma Raducanu, Schmerzen in der Schulter und ein ungewohnter Schläger: Für Tamara Korpatsch läuft es heuer nicht so gut, auch bei anderen Turnieren. Die 27-Jährige aus Hamburg ist immerhin in den Top 80: Wenn die Umstände passen und sich alle ans Fair Play halten, ist sie eine Hoffnungsträgerin im deutschen Damentennis.
In einem Match außerhalb der Grand Slams hätte Yannick Hanfmann nach den ersten zwei souveränen Sätzen gewonnen. So brauchte er einen dritten Gewinnsatz. Und das bei entfesselten Australiern im Publikum in seiner Partie gegen den Australier Rinky Hijikata. Im vierten Satz stand es 5:3 für den 31-Jährigen aus Karlsruhe. Doch der Newcomer aus Australien drehte das Spiel, unterstützt von der Party seiner Landsleute. „Nervt“, kommentierte Hanfmann die deutschen Pleiten.
Ähnlich ging es Daniel Altmaier: Der 29-Jährige brachte in den Sätzen drei und vier Francis Tiafoe in Bedrängnis. „Er hat hart gekämpft“, lobte der amerikanische Spitzenspieler den Kempener und Davis-Cup-Newcomer.
Das sah Oscar Otte, der sich 2022 bis auf ATP-Rang 36 hochgearbeitet hatte, bei sich selbst nicht so: „Ich stand gefühlt wie eine Mülltonne auf dem Platz.“ Dabei spielte der 29-Jährige in zwei von vier Sätzen sehr gut. „Ist teilweise echt ätzend, der Sport, muss man sagen. Aber ich lieb’s trotzdem und bleib dran“, resümierte der Kölner.
Auch der frühere Top-30-Spieler Jan-Lennard Struff kämpfte sich fest entschlossen über die Qualifikation ins Hauptfeld. Doch der 32-Jährige scheiterte an Tommy Paul, einem der 30 starken US-Amerikaner bei den Australian Open, der in die Top 20 der Welt einzog. Spanier, Franzosen und Italiener präsentierten ebenfalls ihre nachkommende Leistungsdichte im Hauptfeld.
Bei den Deutschen schafften es immerhin Ella Seidel, Marianna Zhiyenbayeva bis in die dritte Runde beim Juniorinnen-Turnier der Australian Open. Bei den männlichen Junioren sieht es deutlich schlechter aus.
Unterm Strich hat der DTB-Präsident mit Blick auf Down Under recht: So reicht es nicht, um international für Furore als Tennisnation zu sorgen. Der Verband muss eine Bestandsaufnahme machen. Und potenzielle, neue Trainer ansprechen: Gut möglich, dass zurückgetretene Spielerinnen und Spieler beim Transport des Nachwuchses in die engen Matches der Grand-Slam-Turniere helfen könnten.