Christoph Harting war 2016 als Sportler ganz oben: Gold bei Olympia in Rio de Janeiro. Sportlich konnte er an diesen Erfolg nicht mehr anknüpfen, und auch privat erging es ihm schlecht. Der Diskuswerfer fiel in eine Depression.
Es gab eine Zeit, in der stand Christoph Harting im Mittelpunkt der deutschen Leichtathletik. Auch wenn er das selbst gar nicht wollte. Fast ganz Sport-Deutschland freute sich mit, als ihm bei den Olympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro im letzten Versuch der Gold-Wurf gelang und er aus dem Schatten seines älteren, deutlich berühmteren Bruders Robert treten konnte. Und Sport-Deutschland diskutierte heftig, als der Diskuswerfer anschließend bei der Siegerehrung auf dem Podest rumtänzelte, bei der Nationalhymne pfiff und teilweise die Arme verschränkte. Darf sich so ein Leistungssportler verhalten? Harting hätte sich „mehr Ruhe und Konzentration“ gönnen müssen, sagte Alfons Hörmann später.
Der damalige Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes zeigte aber auch Verständnis für den Athleten, „der im Überschwang seiner Gefühle bei seinem größten Erfolg sich nicht so gibt, wie man es sich wünschen würde“. Christoph Harting, ein Typ mit Ecken und Kanten. So einen lieben die Medien eigentlich – doch die hatten ein Problem mit dem Berliner: Er sprach so gut wie nie mit der Presse. „Ich bin kein PR-Mann. Ich beantworte echt ungern Fragen“, sagte Harting einmal: „Ich bin Sportler und verstehe mich auch als solcher. Ich bin nicht der Medienhengst, ich suche nicht nach Öffentlichkeit.“ Er wolle lediglich die Bühne des Wettkampfes betreten und die Emotionen dort genießen, „alles andere überlasse ich den anderen, die mehr sagen wollen“.
„Ich bin nicht der Medienhengst“
Und so war es auch kein Wunder, dass Christoph Harting langsam aber sicher aus dem Bewusstsein der breiten Öffentlichkeit verschwand, als seine Leistungen nicht mehr für Topplatzierungen reichten. Bis Anfang Juli, als er doch einmal mit der Presse sprach – und das so offen wie noch nie zuvor.
Er habe einen „absoluten Breakdown“ erlitten, einen psychischen Zusammenbruch. „Stell dir vor, du wachst auf und liegst unter einer riesigen, großen, schweren, schwarzen Decke. Und du kriegst die nicht runter. Du kriegst noch nicht mal den Wecker ausgemacht. Du hörst immer wieder zu, und irgendwann hört er auf zu klingeln. Dann bleibst du einfach liegen“, sagte der Leichtathlet im Interview der „Berliner Zeitung“. Die Depression hatte ihn voll erwischt. „Keiner ist davor gefeit. Egal, wie erfolgreich oder unerfolgreich er war“, sagte der 33-Jährige: „Und ja, es hat auch mich getroffen.“ Sogar so sehr, dass der Psychologiestudent von der Universität exmatrikuliert wurde. „Ich hatte meine Semestergebühr nicht überwiesen. Ich war nicht mehr regelmäßig an der Uni. Und man hat mich nicht erreichen können, weder postalisch noch sonst.“ Er musste sich professionelle Hilfe suchen. „Ich war in der Klinik, wurde psychotherapeutisch und psychologisch betreut, dazu kam die Einstellung mit Medikamenten.“ Während der Betreuung habe er Übungen zur Überwindung der mentalen Probleme erlernt. Emotionsregulation heißt der Fachbegriff dafür. „Wie kannst du dich rausziehen, was kannst du machen? Woran kannst du denken? Du lernst, mit dir selbst umzugehen“, erzählte Harting. Vor allem die Panikattacken seien „furchtbar“ gewesen, „du hast das Gefühl zu sterben. Du musst dich rausziehen.“ Das sei aber „ein unglaublicher Kampf, der einen unfassbar müde macht“. Kraft für den Leistungssport blieb da nicht übrig. Zumal auch die Trennung von seiner Frau und die anschließende Wohnungssuche „sehr viel Energie“ geraubt hätten. Zwischenzeitlich wohnte er notgedrungen sogar bei seinem Trainer, oder er schlief bei einem Kumpel im Büro, im Wurfhaus, manchmal auch im Auto. Die unzähligen Absagen für Wohnungs-Besichtigungen habe er „irgendwann ungelesen gelöscht“, berichtete der Sportler über die frustrierende Zeit: „Mein Leben ist komplett aus dem Ruder gelaufen, feste Anlaufstellen gab es kaum.“
Der Sport habe ihm in jener Zeit zwar im Alltag „noch halbwegs Struktur gegeben“. Allerdings nicht auf einem Niveau, das als Leistungssport hätte bezeichnet werden können. Das Training war zu dieser Zeit nicht auf große Titelkämpfe ausgerichtet, sondern galt vornehmlich dem Vergessen. „Wenn ich mich im Training zerstört habe“, berichtete Harting, „habe ich den Körper so totgemacht, dass der Kopf einfach die Klappe gehalten hat. Ich war so am Maximum, damit ich einfach Ruhe hatte. Das war unfassbar schön.“ Sportlich gesehen war diese Art des Trainings kontraproduktiv. Doch diese Phase hat Harting mittlerweile überwunden.
Das Diskuswerfen, das er früher nicht als Leidenschaft, sondern als Job betrachtet hatte, ist deutlich stärker zu einem Lebensschwerpunkt geworden. „Das heißt, dass mich schlechtere Leistungen jetzt viel mehr emotional treffen als früher“, sagte Harting: „Ich definiere mich jetzt viel mehr über den Sport.“ Für die Qualifikation zu den Weltmeisterschaften vom 19. bis zum 27. August in Budapest wird es für ihn wohl nicht mehr reichen. Aber der dritte Platz bei den Deutschen Meisterschaften in Kassel mit einer Weite von 62,87 Meter war ein weiterer Schritt vorwärts. Er wisse, dass Weiten von 67 Meter und mehr in ihm stecken würden, „aber bei der täglichen Arbeit kommt es nicht raus“. Kein großes Drama, denn sein Hauptziel ist noch ein Jahr entfernt: Olympia in Paris. „Der Coach sagt, wir sind voll im Plan“, sagte Harting: „Dann kommt aber das Ungeduldige in mir: Ich will auch dieses Jahr was machen. Das steht gerade im Konflikt.“
„Wir sind voll im Plan“
Doch Geduld ist auch deswegen der Schlüssel, weil der Rio-Olympia-Sieger seine Technik grundsätzlich umgestellt hat. „Früher bin ich beim Werfen abgesprungen, jetzt versuche ich, stehen zu bleiben und danach abzuspringen“, erklärte er es bewusst vereinfachend. „Wir wollen an dem neuen System festhalten, weil es in seiner Komplexität Erfolg versprechender ist und langfristig ein größeres Entwicklungspotenzial bietet.“ Vorher konnte er an der neuen Technik nicht feilen, weil er mental dazu nicht in der Lage war. Aber auch, weil er aus der Spitzensportförderung flog. Weil er anderthalb Jahre keinen Leistungssport betrieb, verlor er seinen Kaderstatus und war damit von einem Teil der öffentlichen Förderung abgeschnitten.
Schon vor all diesen Problemen schloss er mit seinem Bruder Frieden. Christoph und Robert Harting hatten jahrelang ein zerstörtes Verhältnis, sprachen so gut wie nicht miteinander. Die sportliche Rivalität bis zu Roberts Rücktritt 2018 machte die Sache nicht einfacher. Doch die charakterlich sehr verschiedenen Hartings haben sich ausgesprochen. „Wir haben uns Schritt für Schritt gefunden. Das Verhältnis hat sich wunderbar entwickelt“, verriet Christoph: „Ich bin dankbar, dass es jetzt so ist, wie es ist. Es ist echt schön.“
Hätten beide dieses vertraute Verhältnis nicht schon früher haben können, wenn sie ihren Stolz beiseitegelegt hätten? Mit dieser Frage will sich Christoph Harting nicht länger beschäftigen. „Es gibt eine Zeit des Streits, es gibt eine Zeit der Versöhnung, es gibt eine Zeit des Miteinanders“, sagt er stattdessen. „Es ist so gelaufen, wie es gelaufen ist, dem jetzt nachzuweinen, bringt nichts. Es ist einfach schön, dass es jetzt anders ist.“