Mit seinem Triple-Gold bei der Weltmeisterschaft in Budapest hat der US-Amerikaner Noah Lyles nicht nur den Thron des aktuellen Sprint-Königs bestiegen, sondern könnte womöglich auch zum neuen Superstar der Leichtathletik aufsteigen.

Die Mechanismen der Selbstvermarktung hat er im Blut. Er liebt es, mit ungewöhnlichen Frisuren, Outfits und Posen für Aufmerksamkeit zu sorgen. Er fühlt sich auf dem roten Teppich der Met Gala, als Model auf dem Catwalk der Pariser Fashion Week oder in seiner liebsten Freizeitbeschäftigung als Rapper im Stile eines Kanye West ebenso wohl wie in den Sportarenen dieser Welt: „Ich muss nicht als Leichtathlet gesehen werden. Ich glaube, ich muss ein Influencer sein.“ Er riskiert stets auch eine kesse Lippe, weshalb er diesbezüglich gelegentlich mit Schwergewichts-Box-Idol Muhammad Ali verglichen wird. In Sachen großes Mundwerk ist er inzwischen sogar der jamaikanischen Legende Usain Bolt um einiges voraus. An dessen Fabel-Weltrekorde über die beiden Sprintstrecken 100 und 200 Meter, 9,58 beziehungsweise 19,19 Sekunden konnte er aber auch bei der jüngsten Leichtathletik-WM in Budapest im August 2023 als Doppel-Triumphator nicht heranreichen. Und das, obwohl der 26-jährige US-Amerikaner Noah Lyles im Vorfeld des Mega-Events ziemlich großspurig zumindest das Knacken der 200 Meter-Vorgabe angekündigt hatte: „Ich bin hier, um 9,65 Sekunden und 19,10 Sekunden zu laufen.“
Dabei ist er ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass er auch mit der anvisierten 100-Meter-Zeit als erster die Ziellinie überqueren würde: „Das Finale wird in der Zeit gewonnen, in der ich laufe.“ Der Sieg in der Königsdisziplin der Leichtathletik, womit er sich zum derzeit schnellsten Menschen der Welt küren wollte, stand für ihn außer Frage. Er sollte eigentlich nur der am schwierigsten zu bewältigende Auftakt für die angestrebte Triple-Gold-Mission in Budapest werden: „Ich bin hierhergekommen, um drei Goldmedaillen zu holen.“ Tatsächlich sollte er am Abend des 26. August 2023 als Schlussläufer der US-Staffel im Finale über 4×100 Meter den Turbo zünden und damit seinem Team trotz relativ schwacher Wechsel doch noch zum WM-Titel verhelfen – allerdings in einer Zeit von 37,38 Sekunden, die ein ganzes Stück langsamer war als der unter entscheidendem Mitwirken von Usain Bolt 2012 durch die Jamaika-Stars aufgestellte Weltrekord von 36,85 Sekunden. Damit hatte sich Noah Lyles gleichermaßen zum Gold-Medaillen- wie Sprint-König von Budapest gekürt, was er direkt nach dem Zieldurchlauf mittels dreier ausgestreckter Finger symbolträchtig zum Ausdruck brachte.
Hang zur Selbstinszenierung
Dreimal Sprint-Gold bei einer WM – dadurch musste sich zwangsläufig in den Medien der direkte Vergleich mit Usain Bolt aufdrängen. Dem ist dieses Kunststück als seither letztem Athleten 2015 in Peking gelungen. Auch wenn es für den am 18. Juli 1997 in Gainesville im Bundesstaat Florida geborenen Noah Lyles noch ein weiter Weg sein dürfte, um mit den Erfolgen des Jamaikaners gleichzuziehen. Denn dieser hatte das außergewöhnliche Triple bei drei aufeinanderfolgenden Olympischen Spielen, 2008, 2012 und 2016, und bei drei Weltmeisterschaften, 2009, 2013 und 2015, schaffen können. Und besonders in Sachen olympische Medaillen hinkt Noah Lyles mit gerade mal einer Bronze-Plakette in Tokio 2021 über die 200 Meter noch weit hinterher. Und in der Königsdisziplin war Lyles vor Budapest bei einer WM noch nie auf dem Treppchen gelandet: „Die 100 Meter?“, so Lyles, „das war ein langer Weg durch Blut, Schweiß und Tränen.“

Bislang galt Lyles, der mit seinen 70 Kilogramm Körpergewicht bei einer Größe von 1,80 Meter zu den eher zierlicheren Sprintern zählt, vor allem als Ausnahmekönner auf der längeren Sprintstrecke. Auf dieser hat er sogar schon mehr Wettkämpfe unter 20 Sekunden hingelegt als seinerzeit Usain Bolt. Mit seinem ökonomisch-ruhigen, überaus ästhetischen Laufstil primär in der zweiten Hälfte des Rennens, auf der Zielgeraden nach Passieren der Kurve, ist er von der Konkurrenz kaum mehr zu halten. Und daher konnte er schon vor Budapest bei den Weltmeisterschaften 2019 und 2022 den Titel gewinnen und ist mit seiner im Juli 2022 bei der WM in Eugene aufgestellten Bestzeit von 19,31 Sekunden ziemlich nahe an Bolts Weltrekord herangekommen. In Budapest war die Uhr bei für seine Möglichkeiten nicht sonderlich bemerkenswerten 19,52 Sekunden gestoppt worden. In der Königsdisziplin hatte er in Budapest mit 9,83 Sekunden eine persönliche Bestmarke setzen können. „Das Erschreckende ist“, so Lyles, „dass es noch so vieles gibt, das ich auf den 100 Metern besser machen kann.“ Was das Selbstbewusstsein und den Glauben an die eigene Stärke angeht, so besteht bei Lyles keinerlei Mangel, wie er es den Journalisten in Budapest in die Federn diktieren sollte: „Ich weiß schon seit Langem, dass ich noch so viel mehr zu diesem Ereignis beitragen kann, aber ich habe nur bei den 200 Metern viel gegeben. Und wenn die Leute auf dieses Jahr zurückblicken, werden sie sagen: ,Das war das Jahr, in dem Noah die 200, die 100 und die 4×100 Meter-Staffel gewonnen hat.‘ Und dann werden sie sagen: ‚Das ist der Beginn einer Dynastie.‘“
Bislang kein Bolt-Nachfolger
Eine solche „Dynastie“, eine Sprint-Ära, hatte zuletzt Usain Bolt zustande gebracht, der bei seinem 100-Meter-Weltrekord die sagenhafte Spitzengeschwindigkeit von 44,72 Kilometern erzielen konnte. Seit seinem Rücktritt im Sommer 2017 ist es keinem seiner Nachfolger auf den Sprintstrecken bislang dauerhaft gelungen, die Konkurrenz über einen längeren Zeitraum auf Distanz zu halten. Schon gar nicht auf beiden Distanzen gleichzeitig, einer enormen körperlichen Doppelbelastung, die in der Vergangenheit eigentlich nur von den ganz Großen wie Carl Lewis bewältigt werden konnte. Allerdings braucht die größtenteils ziemlich angestaubte internationale Leichtathletik eigentlich dringend einen neuen Superstar in ihrer 100-Meter-Königsdisziplin, auf der seit 1968 kein weißer Athlet mehr den Weltrekord verbessern konnte.
Lyles scheint durchaus das Potenzial zu besitzen, diese Lücke schließen zu können. Nicht nur sportlich, sondern auch mit seiner schrillen Persönlichkeit. Er ist ein regelrechter Showman mit Charme, Charisma und je nach Bedarf prolligen oder auch intelligenten Sprüchen. Und er ist sich auch längst darüber im Klaren, dass er, ähnlich wie Bolt, der mit Startgagen von bis zu 300.000 Dollar in für die Leichtathletik bis dahin unvorstellbare Dimensionen vorgedrungen war, auch abseits der Stadien eine große Nummer sein muss. Allerdings möchte er sich nicht nur selbst professionell vermarkten, sondern auch gleich seine ganze Zunft zu neuen Ufern führen: „Die Leichtathletik muss sich selbst besser vermarkten, die Geschichten müssen besser erzählt werden. Es ist einfach, mich zu vermarkten. Denn ich gehe da raus, ich bin aufregend, ich bin fröhlich, ich gehe auf die Leute zu.“ Als selbst ernannter Influencer hat er ohnehin das Spiel des Geldverdienens längst verstanden: „Ursprünglich dachte ich, mein Job sei es zu laufen. Nein, deine Aufgabe ist es, Schuhe zu verkaufen. Und je mehr du es tust, desto mehr werden sie dir bezahlen.“
Lyles hatte eine schwere Kindheit

Speziell in seiner Heimat kann Noah Lyles auch mit seiner persönlichen Lebensgeschichte reichlich punkten. Denn die US-Amerikaner lieben es, wenn es ein Star als Kämpfer gegen alle Widrigkeiten ganz nach oben geschafft hat. Angeblich hatten auch schon die Eltern Kevin und Keisha Caine Lyles Leichtathletik an der Seton Hall University in South Orange/New Jersey betrieben. Nach der frühen elterlichen Scheidung wuchs Noah mit seinem Bruder bei seiner Mutter in sehr bescheidenen Verhältnissen auf und soll sich zunächst sportlich vor allem für das Turnen interessiert haben. Im Alter von zwölf Jahren wechselte er dann zur Leichtathletik über. Das war alles andere als selbstverständlich, weil er schon seit seiner Kindheit an einer Asthma-Erkrankung litt. Zusätzlich wurden bei ihm ADHS sowie eine Lese- und Rechtschreibschwäche festgestellt, was laut Lyles eigenem Bekunden zu seiner Isolierung auf der Highschool beigetragen hatte und die Ursache für seine Neigung zu Depressionen gewesen sein könnte, von denen er auch später noch betroffen bleiben sollte.
Im Frühjahr 2020 ist sein seelischer Zustand aufgrund der Pandemie, der Verschiebung der Olympischen Spiele und des ihn schwer belastenden gewaltsamen Mordes an George Floyd so tief in den Keller gerutscht, dass ihn seine Mutter zur medikamentösen Behandlung mit Antidepressiva überzeugen konnte. Diese Entscheidung bewertete er im Rückblick als eine „der besten Entscheidungen, die ich seit einer Weile getroffen habe“. Vor Tokio setzte er die Medikamente ab, was womöglich eine Erklärung dafür sein könnte, dass es für ihn nur zu einer Bronzemedaille gereicht hatte. In Japan präsentierte sich Lyles in völlig ungewohnter Weise mal nicht als Sprint- oder Showmonster, sondern als verletzlicher Athlet: „Viele Leute sehen Sportler nicht als Menschen an. Sie sehen uns entweder nur als Berühmtheit, Übermensch oder Superheld. Doch obwohl wir Dinge tun, die viele Menschen nicht können, haben wir immer noch das gleiche Leben wie viele normale Menschen.“