Ohne Weitsprung-Star Malaika Mihambo stehen die deutschen Medaillenchancen bei der Weltmeisterschaft in Budapest noch schlechter. Der Abstand zur Weltspitze scheint nicht kleiner geworden zu sein, dennoch soll sich ein WM-Debakel wie im Vorjahr nicht wiederholen.
Genau ein Jahr vor der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Paris meldete sich Malaika Mihambo mit einem Motivations-Video auf Instagram zu Wort. Dort sind die Weitsprung-Olympiasiegerin und Tischtennis-Star Timo Boll zu sehen, wie sie voll fokussiert trainieren. „Wir sind bereit – leistungsbereit“ – ist in dem Video zu lesen. Außerdem wandte sich Mihambo noch mit persönlichen Worten an ihre Fans. „Noch 365 Tage hartes Training, Konzentration und Vorbereitung. Damit ich im entscheidenden Moment leistungsbereit bin. Ich freue mich auf Paris 2024“, schrieb die 29-Jährige und fügte an: „Jetzt erst recht!“ Nur wenige Tage zuvor hatte Deutschlands größte Medaillenhoffnung ihren Start für die Leichtathletik-Weltmeisterschaft in Budapest ab dem 19. August absagen müssen. Eine Verletzung im linken Oberschenkel bei den Deutschen Meisterschaften machte ihr einen Strich durch die Hattrick-Rechnung. Denn Mihambo hatte ihr drittes WM-Gold nach 2019 und 2022 im Visier, dieses Kunststück war im Weitsprung zuvor nur der Amerikanerin Brittney Reese (von 2009 bis 2013) gelungen.
„Ich bin sehr traurig, dass die Saison nicht wie geplant stattfinden und ich bei der WM in Budapest nicht an den Start gehen kann“, ließ Mihambo in einer Pressemitteilung verlauten: „Ich bin, wie man bei den Deutschen Meisterschaften gesehen hat, in absoluter Topform in Richtung WM gewesen. Das hätte ich gerne in Budapest gezeigt.“ Bei ihrem sechsten DM-Titel in Folge war sie in Kassel 6,93 Meter weit gesprungen, die Sieben-Meter-Marke griff sie aber nicht mehr an. Weil der Oberschenkel zumachte, brach Mihambo den Wettkampf vorsichtshalber ab. Die erste Ultraschall-Auswertung hatte noch für Erleichterung bei der Sportlerin und dem Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV) gesorgt: Verhärtung, aber kein Riss. Doch genauere Untersuchungen brachten einige Tage später die niederschmetternde Diagnose: Muskelfaserriss, WM-Aus.
Während Mihambo den Rückschlag einigermaßen schnell wegstecken konnte und sich mental bereits auf die Europameisterschaft im kommenden Jahr in Rom und natürlich auf Olympia in Paris eingestellt hat („Darauf liegt mein Fokus“), wiegt ihr Ausfall für den DLV schwer. Im 74-köpfigen Aufgebot wimmelt es nicht gerade von Medaillenkandidaten – ganz im Gegenteil. Realistische Chancen auf Edelmetall können sich allenfalls Speerwerfer Julian Weber, die Zehnkämpfer Niklas Kaul und Leo Neugebauer und Diskuswerferin Kristin Pudenz machen. Deswegen sagte Cheftrainerin Annett Stein auch: „Auf Malaika bei der WM in Budapest verzichten zu müssen, ist für uns ein herber Schlag.“ Dennoch halte sie die Entscheidung für „absolut richtig, denn mit den Olympischen Spielen 2024 steht zu viel auf dem Spiel. Das gesamte Team wünscht Malaika gute Besserung“.
Historisch schlechtes Ergebnis
Ohne ihre Vorzeige-Athletin ist das offizielle Motto der WM „Witness the Wonder“ (Erlebe das Wunder) für das deutsche Team fast schon Programm. Es wäre schon ein kleines Wunder, wenn Deutschland eine deutlich bessere Medaillenausbeute gelänge als bei der vorangegangenen WM vor einem Jahr in Eugene. In den USA hatte es nur Weitsprung-Gold durch Mihambo und Bronze durch die Sprint-Staffel der Frauen gegeben – ein historisch schlechtes Ergebnis. Doch auch in der Breite waren die Leistungen größtenteils unbefriedigend gewesen. Vielen Athleten war es offensichtlich nicht gelungen, ihre Trainingssteuerung auf gleich zwei Saisonhöhepunkte auszulegen. Das bewiesen die teils starken Auftritte der DLV-Stars bei der Heim-EM in München einen Monat später. „Nach dem Wechselbad der Gefühle in der Saison 2022 wird es für uns im Jahr vor den Olympischen Spielen darum gehen, wieder im Weltmaßstab unsere Konkurrenzfähigkeit unter Beweis zu stellen und auch unter Druck im Wettbewerb mit der absoluten Weltspitze die beste Leistung abzurufen“, sagte daher DLV-Sportdirektor Jörg Bügner. Mit einer konkreten Medaillenziel-Vorgabe ist der deutsche Tross deswegen auch nicht in Ungarns Metropole gereist.
Schaut man sich die Jahresweltbestenlisten an, wird klar: Der Abstand der meisten deutschen Athleten zur Weltspitze hat sich im Vergleich zum Vorjahr nicht verringert. Hinzu kommt Verletzungspech, neben Mihambo fehlen auch die Sprinterinnen Alexandra Burghardt und Lisa Mayer und damit immerhin die Hälfte der 4x100-Meter-Europameisterstaffel von München. Und zuletzt musste Stabhochspringer Bo Kanda Lita Baehre nach einem Sturz in den Einstichkasten beim Diamond-League-Meeting in Monaco aus dem Kader gestrichen werden. Auch die Speerwurf-Stars Johannes Vetter und Thomas Röhler werden wie schon 2022 nicht starten. „Dass wir nicht in allen Wettbewerben unsere stärksten Athleten an den Start schicken können, mindert natürlich unsere Erfolgschancen“, bekräftigte Stein: „Da müssen wir realistisch sein.“
Die Aussichten für die neuntägigen Titelkämpfe im Stadion Nemzeti Atlétikai Központ sind aus deutscher Sicht also trübe. „Der Reiz einer Meisterschaft ist aber auch immer, dass es anders kommt, als man denkt“, sagte Frank Busemann. Der frühere Zehnkampfstar wird wie gewohnt als ARD-Experte das WM-Geschehen kommentieren, er ist sich sicher: „Einen Weltrekord werden wir von deutschen Athleten nicht sehen.“ Allerdings erwartet der Olympia-Zweite von 1996 von den DLV-Startern „gute Leistungen und spannende Wettkämpfe“ – und damit eine kleine Wiedergutmachung für das WM-Debakel vor einem Jahr. „Wenn ich ehrlich bin, tat das ein wenig weh. Viele Athleten haben nicht das zeigen können, was sie draufgehabt hätten.“
Das trifft zum Teil auch auf Gina Lückenkemper zu. Zwar war die Berlinerin mit der Staffel sensationell zu Bronze gesprintet, doch im Einzelwettbewerb blieb sie unter ihren eigenen Erwartungen. „Ich habe mit der WM noch eine Rechnung offen“, sagte Deutschlands Sportlerin des Jahres. Das Halbfinal-Aus mit einer enttäuschenden Zeit von 11,08 Sekunden wurmt sie noch immer. „Das ist definitiv nicht das, was ich mir da vorgenommen hatte“, sagte Lückenkemper, „von daher greife ich da dieses Jahr noch einmal vollkommen neu an“. Das EM-Goldrennen von München gibt ihr viel Selbstvertrauen für das ambitionierte WM-Ziel: Finaleinzug über 100 Meter. Lückenkemper will unbedingt dieses prestigeträchtige Rennen bestreiten, „und wenn ich dann drin bin, ist vieles möglich“. Damit es mit einem Podestplatz klappt, muss aber viel in ihre Richtung laufen. Eine Zeit unter 11 Sekunden scheint dafür Pflicht, außerdem müssten einige auf dem Papier höher eingeschätzte Konkurrentinnen aus dem Ausland patzen. „Das Niveau im Frauensprint ist so krass geworden“, sagte Lückenkemper. Doch auch sie selbst habe sich „in diesem Jahr verbessert“.
Zwischen Anfang März bis Ende Mai hat sie sich erneut in der internationalen Trainingsgruppe von Starcoach Lance Baumann in Florida für die WM-Saison fit gemacht. In diesen Monaten ist Lückenkemper an ihre physischen und psychischen Grenzen gegangen. Es gebe dort Tage, an denen sie nach dem Training zu Hause „erst mal für ’ne Stunde ausgeknockt auf der Couch“ liege und „völlig weg“ sei, wie Lückenkemper dem RBB verriet. Sie nennt es scherzhaft „Knock-out Days“. An jenen Tagen sind ihre Beine durch kurz hintereinander stattfindende Sprinteinheiten mit derart viel Laktat gefüllt, dass sie sich kaum bewegen kann. Dazu kommt, dass die Trainingsgruppe mit Stars und angehenden Stars besetzt ist. Der enorme Konkurrenzdruck kommt als psychische Belastung hinzu. Doch die Methode hat Erfolg. „Ich darf in Florida mit Weltmeistern und Olympiasiegern trainieren. Ich bin dankbar für das Set-up“, sagte sie: „Ich profitiere unfassbar davon.“ Lückenkemper fühlt sich „so fit, wie noch nie“. Bei der DM in Kassel sicherte sie sich mit großem Vorsprung den Titel über 100 Meter in einer Zeit von 11,03 Sekunden. Doch bei der WM in Budapest will sie noch eine Schippe drauflegen: „Ich spüre, dass da was Ordentliches in der Pipeline ist.“
„Ich weiß, dass ich es kann“
Darauf hofft auch Speerwerfer Julian Weber, der noch auf seinen ersten 90-Meter-Wurf wartet. „Ich weiß, dass ich es kann“, sagte der Mainzer. Am Selbstbewusstsein mangelt es ihm nach seinem EM-Gold nicht mehr, nun will er auch den WM-Fluch brechen: Bei den Weltmeisterschaften 2019 und 2022 hat er jeweils eine Medaille knapp verpasst. Als Weltranglistenzweiter wäre ein vierter Platz diesmal eine Enttäuschung, doch daran denkt Weber gar nicht. Die jüngsten Erfolge haben ihn mental reifer gemacht. „Es ist wie eine Welle – und die will ich so lange reiten, wie es geht.“ Genau in die andere Richtung geht es mit Speerwurf-Kollege Johannes Vetter. Der verletzungsgeplagte Ex-Weltmeister scheiterte an der Qualifikationsnorm. Das sei „frustrierend, wenn man daran denkt, aus welchen Leistungsbereichen ich 2020 und 2021 gekommen bin“, sagte Vetter.
Auch Konstanze Klosterhalfen präsentierte sich noch weit von ihrer Bestform entfernt, konnte aber immerhin das WM-Ticket lösen. Wozu die in den USA trainierende 5.000-Meter-Läuferin in Budapest in der Lage ist, ist schwer vorauszusagen. Ihren Start bei der DM in Kassel hatte sie kurzfristig abgesagt, zuletzt war die WM-Dritte von 2019 von Fußproblemen geplagt. Doch ihr Manager Dany Biegler gab Entwarnung: „Sie hat super trainiert, einen beeindruckenden Trainingsblock in der Höhe absolviert.“ Zu Saisonbeginn war Klosterhalfen von ihrem Erfolgstrainer Pete Julian zum Iren Alistair Cragg gewechselt. Mit ihm wolle sie „wieder verstärkt an der Geschwindigkeit arbeiten, insbesondere über 1.500 Meter“, wie Klosterhalfen verriet: „Der Speed über die 1.500 Meter tut mir dann im Endeffekt auch über die 5.000 Meter richtig gut.“