Das renommierte Festival „Tanz im August“ in Berlin feiert seinen 35. Geburtstag. Und auch bei dieser Ausgabe gibt es einen Rundblick auf nationale und internationale Spitzenleistungen des zeitgenössischen Tanzes.
Was 1989 von Nele Hertling begründet wurde, hat sich inzwischen auch im europäischen Maßstab zu einem bedeutenden Defilee von Tanz und Performance gemausert. Passend zum Jubiläum ist kurz zuvor Johannes Odenthals Band „Ins Offene. Nele Hertling“ erschienen, der ihr Wirken als Netzwerkerin weit über Ländergrenzen hinweg beschreibt und würdigt. Zudem wird Nele Hertling, mittlerweile 88 Jahre alt, während des Festivals im Gespräch mit dem Autor und Anne Teresa De Keersmaeker über ihr Leben berichten. Noch etwas ist neu in der Jubiläumsausgabe: Erstmals wird „Tanz im August“ von Ricardo Carmona verantwortet. Zehn Jahre war der Portugiese Tanzkurator am Hebbel am Ufer (HAU). Nun beerbt er die beliebte Finnin Virve Sutinen, die dem Festival seit 2014 ein markantes Gesicht verliehen hatte. Dass Carmona im Gegensatz zu seiner Vorgängerin Sutinen ohne Findungskommission berufen wurde, zunächst bis 2025, hat in der Berliner Szene für einigen Unmut gesorgt. Denn jetzt ist das Festival, bislang eher unabhängig, in die alleinige Hoheit des HAU übergegangen.
Ökologische Fragestellungen
Rund zweieinhalb Wochen lang – vom 9. bis zum 26. August – legt Carmona in seinem ersten Jahrgang ein zwar verkürztes, dennoch gehaltvolles Programm vor und bezeichnet das Festival, ganz studierter Biologe, als einen „Wald aus verschiedenen Welten in ökologischem Gleichgewicht“. Das gilt auch für die Rahmenbedingungen: Die Teilnehmenden reisen möglichst per Zug an und logieren in umweltfreundlichen Hotels. Umweltbelange sind ebenso Programmbestandteil: An drei Tagen laden 22 künstlerische Arbeiten zu den Themen Klima, Nachhaltigkeit und Ökologie in Berliner Parks ein.
Was aber zuallererst interessiert, sind die im Festival vertretenen Beiträge internationaler Kompanien, von denen die Hauptstadt über das Jahr ohnehin nicht eben üppig beglückt wird. Als Spielstätte dafür konnte etwa das Haus der Berliner Festspiele gewonnen werden. Dort gibt es eine erste Begegnung mit dem Ballet national de Marseille, das sich seit Roland Petits klassisch dominierten Zeiten gründlich gewandelt hat. Das Trio (La)Horde leitet jetzt ein verändertes Ensemble und bringt nach Berlin „Age of Content“ mit. Intimität und Öffentlichkeit überlagern sich darin und verknüpfen in einem imposanten Bühnenbild Genres vom Actionfilm bis zu Musicals und zeigen Stunts. Ein Wiedersehen gibt es mit zwei Truppen, die bereits häufig bei „Tanz im August“ zu Gast waren. So thematisiert Anne Teresa De Keersmaeker mit ihrem Kollektiv Rosas in „Exit Above after the tempest“ die verschiedenen Arten des Gehens: vom naturnahen Wandern bis zum politisch oder militärisch motivierten Marschieren. Berührte Trajal Harrell beim vorjährigen Festival mit einer Art Schwebetanz um Trauer und Einsamkeit, stellen der US-Amerikaner und sein noch bis nächste Saison am Schauspielhaus Zürich beheimatetes Dance Ensemble mit „The Romeo“ Tanz als tiefes Bedürfnis vor, über das Heute hinaus zu gelangen.
Auch die europaweit gefeierte Portugiesin Marlene Monteiro Freitas bespielt mit der Volksbühne ein großes Haus. Ihr 105-Minuten-Stück „Mal – Embriaguez Divina“ setzt sich mit dem Bösen auseinander. Kummer und Schrecken stehen einer dionysischen Ekstase gegenüber; zwischen Netzen und Gittern vollziehen sich Aufmärsche, Rituale, Sportwettkämpfe und physikalische Experimente. Beschließt dieses Spektakel den „Tanz im August“, wird er im Hebbel-Theater seit jeher, von „C A R C A Ç A“ eröffnet. Der Portugiese Marco da Silva Ferreira und sein zehnköpfiges Team fragen darin, was einen kollektiven Körper antreibt, und verbinden Street Dance mit Folkloretänzen. Reizvolle Produktionen finden sich an weiteren Spielorten zwischen den rahmenden Gastspielen. Die international tätige, in der Elfenbeinküste geborene Nadia Beugré hat für „Prophétique“ in der Transgender-Community von Abidjan recherchiert und stellt Tanzdiven auf die Bühne, die tags ihr Geld verdienen, um nachts mit Voguing für eine bessere Zukunft zu kämpfen.
Frauen, deren Existenz von dem kolonialen System verleugnet wurde, setzt Dorothée Munyaneza aus Ruanda in ihrem Solo „Toi, moi, Tituba“ ein bewegendes Denkmal. Auch Radouan Mriziga aus Marrakesch bewahrt ein Erbe, indem er es mit Rap und Performance kombiniert: Sein „Libya“, in dem auch Dorothée Munyaneza tanzt, widmet sich der Kultur der Amazigh, der nordafrikanischen Berberstämme, in einer arabisierten Mehrheitsgesellschaft. Zu einem vitalen, selbstbestimmten und lustvollen Leben rufen in „C la vie“ Serge Aimé Coulibaly aus Burkina Faso und sein Faso Danse Théâtre auf. In die Tradition eintauchen, um über die Gegenwart zu sprechen, ist das Anliegen des Marokkaners Taoufiq Izeddiou: Gemeinsam mit acht männlichen Tänzern schafft er in „Hmadcha“, benannt nach einer Sufi-Bruderschaft aus dem 17. Jahrhundert, zwischen Rasen und Erschöpfung einen Ritus der Transzendenz.
Mit gleich zwei Beiträgen präsentiert sich als häufiger Festivalgast die Israelin Yasmeen Godder. Ihr Gruppenstück „Practicing Empathy #1“ untersucht, wie sich innerhalb einer Gemeinschaft durch Tanz und Gesang emotionale Bindungen, Vertrauen und Abhängigkeiten herausbilden können. Im Verlust jener Empathie sieht Godder die Ursache solch zunehmender Phänomene wie Polarisierung und Extremismus. „Practicing Empathy #3“, Teil einer Trilogie und Godders erstes Solo für sich selbst, forscht der Bindung zum eigenen Ich nach: als Voraussetzung für die Fähigkeit, sich in das Gegenüber hineinzudenken.
Physikalische Experimente
Wie motorisch behinderte Menschen mit der Natur koexistieren können, hat die Italienerin Chiara Bersani über Workshops erkundet und in „Sottobosco“ (Unterholz) zu einer Politik des Körpers verdichtet. Ihre Landsleute Ginevra Panzetti und Enrico Ticconi verfrachten ein Quartett auf eine Insel und beobachten, ob sich aus Narzissmus Gesten der Verbindung entwickeln, begleitet vom polyphonen sardischen Gesang Cantu a Tenore. Gar kosmisch wird es bei „Darkmatter“ des Niederländers Cherish Menzo. Inwieweit sich die Kraft dunkler Materie dazu verwenden lässt, Körper von ihren festen Zuschreibungen zu befreien, wollen Menzo und sein Tanzpartner Camilo Mejía Cortés auf der Bühne auch über den Einsatz dunkler Flüssigkeiten und Stoffe physisch greifbar machen. Die Griechin Kat Válastur, in Berlin als eine der interessantesten lokalen Choreografinnen gehandelt, beruft sich in „Strong-Born“ auf das Drama „Iphigenie in Aulis“ des Euripides. Wird darin Agamemnons Tochter als Opfer für Artemis bestimmt, letztlich von der Göttin jedoch gerettet, verschwistert Válastur den Inhalt der Tragödie mit einem nordgriechisch-archaischen Ritual. Die Forderung nach einem Opfer stößt auf rebellischen Widerstand, wie ihn drei Performerinnen auf einer kreisrunden Holzplatte formieren: Klangelemente an ihren Körpern verstärken das Aufbegehren. Bereichert wird das Festival durch Publikumsformate, die Einblicke hinter die Kulissen gewähren, und durch für alle offenen Workshops mehrerer am Festival beteiligter Künstlerinnen und Künstler. Zudem ermöglicht ein eigens eingerichtetes Festivalzentrum vielfältige Begegnungen zwischen Publikum und Kunstschaffenden.