Das Radialsystem in Berlin ist nicht nur einer der vielseitigsten Aufführungsorte der Stadt, hier werden auch regelmäßig Künstlerresidenzen angeboten.
Sie kommen alle an diesen Ort: ob Sasha Waltz & Guests, das Dance On Ensemble und die Kindertanzcompany oder die renommierten Choreografinnen/Performerinnen, Kate McIntosh (aus Brüssel) und Amanda Piña (mexikanisch-chilenisch-österreichische Choreografin), um nur einige Beispiele zu nennen. Das Radialsystem Berlin hat in der Freien Szene einen Namen, ist bereits eine internationale Institution für zeitgenössische performative Kunst.
„Der Schwerpunkt für unser Haus bleibt das Transdisziplinäre, die Verbindung von zeitgenössischem Tanz, aber auch Musik, mit anderen Kunstformen“, so Matthias Mohr, künstlerischer Leiter des Radialsystems. „Und dafür bieten wir eine Plattform als Produktions- und Spielort.“
Die Residenzprogramme des Radialsystems unterstützen die Künstlerinnen und Künstler, ihre kreative Arbeit ohne eigene finanzielle Mittel ausüben zu können. Seit 2020 gibt es das Programm „Body Time Space“, es förderte seitdem für jeweils vier Wochen sechs Kunstschaffende. Rund 180 Bewerbungen gehen jährlich ein. Wer überzeugt und zur programmatischen Ausrichtung des Radialsystems passt, wird nicht nur finanziell unterstützt, sondern kann auch auf die Unterstützung der Studios bei Licht und Ton setzen. Außerdem gibt es Beratungsmöglichkeiten für dramaturgische Produktions- und Marketingfragen, Kontakte zu Choreografinnen und Choreografen anderer Häuser sowie die Möglichkeit, intensiv untereinander zu netzwerken.
Ohne Druck künstlerisch arbeiten
Diese Dialoge nutzen die Kunstschaffenden gern, da durch die Sicht aus einer anderen Perspektive ihre künstlerische Arbeit ergänzt und sie diese reflektieren können. Zum Thema „Berg“ hat beispielsweise Residentin Lina Gómez gearbeitet. Die Fachgespräche mit einem Geologen des Instituts für Geologische Wissenschaften Berlin halfen ihr, geologische Grundlagen besser zu verstehen. Die langsame Form von Veränderungen setzt sie als Metapher in ihrer tänzerischen Bewegungssprache um.
Als besonderen Benefit schätzen die Residentinnen und Residenten, dass sie frei in Raum und Zeit und ohne Druck künstlerisch arbeiten können. Es gibt auch keine Zwänge in Richtung Ergebnispräsentation. Sie entscheiden selbst, ob sie überhaupt ihre Arbeitsstände nach ihren Residenzen vorstellen wollen. Wenn ja, kann das eine öffentliche Performance, ein Workshop oder eine von ihnen gewählte Präsentationsform sein, zum Beispiel auf den Bühnen des Radialsystems. Lina Gómez gab 2020, auch aufgrund der damaligen Corona-Maßnahmen, mit einem Livestream Einblick in ihren Arbeitsprozess. Sie war eine der ersten Residentinnen im Radialsystem und setzte sich in ihrer Arbeit mit den Grenzen zwischen Körper, Raum und Klang auseinander. Die kolumbianische Choreografin und Tänzerin studierte Tanz und Theater in São Paulo und erhielt ihren Master in Choreografie am Hochschulübergreifenden Zentrum Tanz in Berlin. Hier lebt und arbeitet sie jetzt, erforscht Bewegungstraditionen aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen und verarbeitet sie in einem ausdrucksstarken Formbewusstsein.
Roció Marano, Residentin 2022, präsentierte ihre Arbeitsergebnisse in einem Praxis-Format, bei dem das Publikum nicht nur Betrachter, sondern auch in die Choreografie eingebunden war. Die argentinische Tänzerin und Choreografin beschäftigt sich in ihrer künstlerischen Recherche mit traditionellen, argentinischen Tänzen. Während ihrer Residenz vertiefte sie unter anderem ihre Auseinandersetzung mit dem Malambo – einer traditionellen Tanzform der argentinischen Gauchos. Die Künstlerin studierte zusätzlich zu ihrer Tanzausbildung und Choreografie Ökofeminismus an der Universität Buenos Aires.
Alle der bisher sechs Residentinnen und Residenten des Radialsystems haben interessante Biografien vorzuweisen. Und das nicht nur in künstlerischer Hinsicht. Die brasilianische Performerin und Choreografin Elisabete Finger musste ihr Land aus politischen Gründen verlassen. Seit 2023 ist sie im Rahmen des Fellowship-Programms „Weltoffenes Berlin“ erster „Artist in Residence“ im Radialsystem. Das von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Gesellschaftlichen Zusammenhalt geförderte Programm richtet sich ausdrücklich an Kunstschaffende, die ihre bisherigen Aufenthaltsländer aufgrund der dortigen politischen Situation verlassen mussten. Diese Residenz erlaubt der Künstlerin, für ein Jahr kontinuierlich künstlerisch zu arbeiten, sich zu entwickeln. Im Gegensatz zum Residenzprogramm „Body Time Space“, bei dem die Teilnehmenden an einem öffentlichen Ausschreibungsverfahren teilnehmen, müssen sich die Bewerbenden beim Programm „Weltoffenes Berlin“ um die Residenz-Institutionen selbst bemühen. „Das Radialsystem musste sich bei der Berliner Senatsverwaltung bewerben, um dieses spezielle Residenzpartnerschaft anbieten zu dürfen“, unterstreicht der künstlerische Leiter des Hauses. Da die kreative Ausrichtung von Elisabete Finger und die Expertise in der internationalen Tanzszene sowie die Ressourcen des Radialsystems zusammenpassten, kam das Programm erstmalig 2023 zum Einsatz.
Zeit und Raum für Kreativität
Zu ihrer Herangehensweise sagt Elisabete Finger, sie habe wohl eingangs kein durchformuliertes Konzept gehabt. Aber Fragen und Dringlichkeiten, die sie zu choreografischen Situationen bewegten. Finger hat sich zum Ende ihrer Residenz entschieden, unter dem Titel „Showing“ eine Performance zu zeigen und dazu eine Video-Reihe, die sie während ihrer Residenz erarbeitet hat (siehe Informationskasten).
„Als ‚Artist in Residenz‘ im Radialsystem zu arbeiten bedeutet, Zeit und Raum für Forschung und Kreativität zu besitzen. Nicht nur die Zeit, die ich im Studio hatte, sondern auch die ganzen Tage dazwischen. All die Gespräche und der Austausch mit Matthias Mohr, mit den Technikerinnen und Technikern und mit wunderbaren Menschen aus dem Haus. Die Möglichkeit, viele Auftritte zu sehen und das Programm des Radialsystems während eines Jahres zu verfolgen und zu studieren. All dies hat einen großen Einfluss auf den kreativen Prozess. Ich komme aus einem Umfeld, in dem wir normalerweise nur sehr wenig Zeit haben, um Werke zu schaffen und zu präsentieren, und in dem die Bedingungen sehr prekär sind.“
Das Radialsystem wird sich 2024 erneut beim Programm „Weltoffenes Berlin“ bewerben, sagt Matthias Mohr. Und somit Freiraum für künstlerische Experimente und die Förderung der internationalen, zeitgenössischen Tanzszene bleiben.