Die Tanztage bieten traditionell zu Beginn des Jahres eine Plattform für choreografische Entdeckungen. Auch bei der 33. Ausgabe hinterfragen unterschiedlichste Formate dabei den Zustand der Welt.
Gut 28 Jahre ist es her, dass sich Berlins Tanzenthusiasten in der Septemberkühle vor der Spielstätte des Pfefferbergs am Senefelderplatz im heutigen Szeneviertel Prenzlauer Berg drängten. Unter dem Titel „Tanztage“ bot dort eine neue Veranstaltungsreihe knapp zwei Wochen lang besonders jenen Choreografen ein Podium, die sich stilistisch schwer zuordnen ließen, gerade in Berlin angekommen waren oder einfach nur noch keinen Namen hatten. Barbara Friedrich, auch sie damals ein Berliner Neuzugang, setzte als Initiatorin des kleinen Festivals mutig auf Risiko und wurde mit wahren Zuschauerströmen belohnt. Das sicherte nicht nur die Fortführung des Projekts, sondern half, seine Frequenz zu erhöhen. Zweimal pro Jahr, im September und im Januar, quetschte man sich nun in den übervollen Saal, um die nächste Choreografen-Generation zu beobachten und vielleicht bei der „Geburt“ eines Talents dabei zu sein. Dem Nachwuchs gehörte Barbara Friedrichs spezielle Zuwendung, denn im Pfefferberg stelle „vor allem die junge Tanzszene Berlins ihre Vitalität unter Beweis“, hieß es selbstbewusst.
Unter die jungen Talente mischten sich bald arriviertere Choreografen aus Ost und West – die Tanztage als Begegnungsstätte. Sie gerieten so zu einer Leistungsschau dessen, was die Hauptstadt auch an erwiesener Qualität zu bieten hatte. Aus Ost kamen etwa Holger Bey, Christoph Winkler, Gundula Peuthert, aus West Norbert Servos, Ingo Reulecke und Alex B sowie Ludger Orlok, Toula Limnaios und Tomi Paasonen. Und auch ihnen wurden die Tanztage ein Podium: den Choreografie Studierenden der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, von „Etage“ und „Balance 1“. Sogar ein „1. Treffen europäischer Jugendtanzgruppen“, Vorläufer des heutigen „Tanztreffens der Jugend“ im Haus der Berliner Festspiele, lockte 1999 Umtriebige ins Pfefferberg Theater. Lässt man die genannten und weitere Namen Revue passieren, können die Tanztage im Pfefferberg auf keine schlechte „Trefferquote“ verweisen: Viele Karrieren hatten hier ihren Startpunkt oder haben nochmals Fahrt aufgenommen. Finanziell bedroht blieben die Tanztage indes jedes Jahr, weil der Berliner Haushalt oft erst spät beschlossen wurde und bis dahin der Zuwendungsfluss unsicher war.
Mit sanierungsbedingter Schließung des Pfefferbergs wanderte das Festival 2001 in die Sophiensäle, wo es, beschränkt auf den Januartermin, unter nach wie vor regem Publikumszuspruch heimisch geworden ist. Als Einstieg in das neue Tanzjahr hat es zudem keine Konkurrenz. Was nicht alle Nachfolger von Barbara Friedrich gern so gesehen haben, ist nun erklärtes Etikett der Tanztage: ein Nachwuchsfestival zu sein. Der Kurator der mittlerweile 33. Ausgabe, Mateusz Szymanówka, hatte dafür – ein Rekord – die Teilnehmenden unter 240 Bewerbungen auszuwählen. Die Szene professionalisiere sich, meint er, es gebe für die „Neuen“ mehr Zugang zu Recherche-Stipendien und Residenzen. So wurden zwei frühere Produktionen zur Tanzplattform, der bundesweiten Zusammenschau im zeitgenössischen Tanz, eingeladen. Ein Erfolg auch für die Tanztage als produzierende Einrichtung. Nach welchen Kriterien findet Mateusz Szymanówka die Stücke für sein Programm? Die Choreografierenden müssen in Berlin leben und wohnen, sagt er. Ansonsten gehe es nicht um eine Auswahl der Besten: Die Tanztage sollen unterschiedliche Ansätze und Perspektiven aufzeigen, weil es kaum noch unumstößliche Wahrheiten gebe. Das Festival bietet traditionsgemäß auch Experimenten Raum, stellt choreografische Sichtweisen auf unsere Welt vor, spiegelt die Umwelt, befasst sich mit Themen wie sozialer Gerechtigkeit und nutzt diverse künstle-rische Montageprinzipien. Die Stücke können fünf bis 30 Minuten dauern oder nachtlang sein, der Probenzustand reicht für die Bewerbung; Wiederaufnahmen müssen freilich bühnenfertig sein. Er stehe, sagt Mateusz Szymanówka, auch für konzeptionelle Fragen zur Verfügung.
Als ehemaliger Teilnehmer an den Tanztagen 2015 weiß er, wovon er spricht. Bereits 2010 saß er im Publikum, hatte 2015 seinen ersten Einsatz als Dramaturg. Seit 2020 ist der Theater-, Kultur- und Tanzwissenschaftler aus Nordpolen künstlerischer Leiter der Tanztage und Tanzdramaturg der Sophiensäle. „Ich bin Krisenkurator“, fügt er an, „war durch Pandemie, Kriege, Klimakrise in den Planungen beeinträchtigt“.
Zehn Produktionen an 16 Festivaltagen
Und er hat das alte, nicht nur den Tanztagen zusetzende Problem auf dem Tisch: die unsichere Finanzlage. Höhe-re Honorare, dazu die Inflation plus gestiegene Nebenkosten stehen einer relativ bescheidenen finanziellen Ausstattung gegenüber.
Von der Konzeptförderung für die Sophiensäle entfallen auf die Tanztage 120.000 Euro. Der Hauptstadtkulturfonds legte einmalig für die Ausgabe 2024 nochmals 120.000 Euro drauf.
Somit können zehn Produktionen an den 16 Festivaltagen gezeigt werden, aufgeteilt auf die drei Spielstätten des Hauses, neben Fest- und Hochzeitssaal auch die neu erschlossene Kantine. Eröffnet werden sie von Nasheeka Nedsreal, derzeit Mitglied im Tanzensemble am Schauspielhaus Zürich, die als multidisziplinäre Performerin mit Bewegung, Klang und visuellen Medien arbeitet. Ihr Solo „Nureal Dust“ erforscht, wie Masken verbergen, offenlegen, schützen und zum Protest benutzt werden können – im digitalen Zeitalter, das unsere Wahrnehmung der Realität ständig infrage stellt.
Auch Deva Schubert, schon bei Christoph Winkler im Einsatz, greift ein digitales Phänomen auf: die Störung von Information. Im Zentrum ihres Frauen-Duetts „Glitch Choir“ steht die Neukomposition eines Klagelieds durch Glitching, wobei hier eine stimmliche Verzerrung eingesetzt wurde. Schubert teilt sich den Abend mit „Bodyride“ um jene Ballroom-Szene, wie sie von Schwarzen und queeren Personen als Reaktion auf Ausgrenzung und im Widerstand gegen Gewalt kreiert wurde, zu zeigen.
„Qué Boléro o En Tiempos de Inseguridad Nacional“ heißt das Projekt des Colectivo Malasangre, dreier junger Kubaner, die in den 1990ern geboren wurden, als der Sozialismus weltweit zusammengebrochen war und der karibische Inselstaat daher ohne jede Unterstützung die Periodo especial, seine wohl schlimmste Wirtschaftskrise, durchlebte. Lazaro, Luis und Ricardo gingen wie viele nach Europa. In ihrem Stück über „Zeiten der nationalen Unsicherheit“ konfrontieren sie Ravels „Boléro“ mit den Erinnerungen an Nächte in Havanna, Congas und Karneval. „Fists to Flowers“, ein Quartett um Choreograf Yotam Peled, zeigt Begegnungen zwischen Intimität, Nähe und Schmerz; Camila Malenchinis Performance „The Faun“ untersucht die Macht von Mythologien; das Duett „We Are (nothing) Everything“ bietet eine queere Schöpfungsgeschichte. Einen der Schlusspunkte des Festivals setzt Rob Fordeyn, klassisch geschulter Tänzer und Mitglied des Tanzensembles am Schauspielhaus Zürich, mit dem Solo „Absolute Beginners“ – ein Trauerritual über das Vergessen zu Musik von Schubert bis zu David Bowies titelgebendem Song. Gibt es 2025 wieder eine neue Ausgabe der Tanztage? Es gebe Hoffnung, orakelt Mateusz Szymanówka. Er muss es wissen.
Die Tanztage in den Sophiensälen finden vom 5. bis zum 20. Januar 2024 statt. Weitere Informationen findet man unter: tanztage-berlin.sophiensaele.com