Nach 22 Jahren fand das Internationale Literaturfestival Berlin erstmals unter neuer Leitung statt. Mitte November gibt es eine letzte Veranstaltung mit Geoffroy de Lagasnerie, Édouard Louis und Didier Eribon.
Eigentlich ist das 23. Internationale Literaturfestival Berlin (ILB) schon vorbei. Eigentlich. Denn am 14. November findet als Post-Festival-Event noch eine letzte Diskussionsrunde statt: Geoffroy de Lagasnerie diskutiert zusammen mit Didier Eribon und Édouard Louis, wie Freundschaft als alternative Lebensform jenseits von Paarbeziehungen und Familie dienen kann. Mit den beiden entwickelte der französische Philosoph und Linksintellektuelle eine enge Freundschaft, der er in seinem ebenfalls im November auf Deutsch erscheinenden Buch „3 – Ein Leben außerhalb“ ein Porträt widmet.
Sich nie mit schönen Worten zufriedengeben
Den Auftakt des zehntägigen Festivals machten Francesca Melandri, Manjeet Mann und Navid Kermani in der Staatsbibliothek – musikalisch begleitet vom Trickster Orchestra. Die Formation vereint Solistinnen und Solisten in einem Kollektiv der transkulturellen Avantgarde-Musik. Ihr Eröffnungsstück „Maa shodane nou be nou“ („Das neue Wir“) ist eine Gedichtvertonung auf Farsi. Hierbei kamen klassische wie traditionelle Instrumente zum Einsatz, so etwa die chinesische Sheng. Ein weiteres unerwartetes Highlight der Eröffnungsveranstaltung war die Lesung der elfjährigen Celia Spickhoff. Die Gewinnerin des Vorlesewettbewerbs des Deutschen Buchhandels las eine Passage aus Erich Kästners „Pünktchen und Anton“ vor – ein Kinderbuch, das von den Nationalsozialisten im Dritten Reich verboten worden war. Die Lesung sollte auch ein Vorgeschmack auf eine Reihe weiterer Veranstaltungen im Rahmen des Festivals sein, bei denen 90 Jahre nach den Bücherverbrennungen aus den damals verfemten und vernichteten Werken gelesen wurde.
In ihrer Rede „The ultrasound of silence“ sprach die italienische Schriftstellerin Francesca Melandri über das Schweigen: „Der Kern des Textes, seine Energie, liegt nicht so sehr in den Worten, sondern in den Leerstellen zwischen ihnen. In dem, was angedeutet wird, was ungesagt bleibt.“ Dieser leere Raum, dieses Schweigen, sei der Ort, an dem die Kommunikation zwischen der Autorin und den Lesern stattfinden könne. Melandri thematisierte das Schweigen in geschichtlichem und politischem Kontext, das dem Verschweigen diene. Als Beispiel führte die Autorin das fehlende Wort „Sklaverei“ in der Unabhängigkeitserklärung der USA an, aber auch die Rolle der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg und schließlich schlug Melandri den Bogen zum aktuellen Krieg in der Ukraine. „Ich sehe meine Aufgabe als Autorin darin, immer sehr genau hinzuhören und mich nie mit schönen Worten zufrieden zu geben, selbst wenn es so schöne Worte wie Freiheit und Frieden sind“, sagte sie. Ihre Aufgabe sei es, in die Stille hineinzuhören und dann der Stille einen Namen zu geben.
Erstmals stand das Festival unter der Federführung von Lavinia Frey, die den Stab von ILB-Direktor Ulrich Schreiber übernommen hat. Der Kulturmanager hatte das Festival im Jahr 2001 gegründet und 22 Jahre lang geführt. Nachdem sich Mitarbeiter über miserable Arbeitsbedingungen und Machtmissbrauch durch Ulrich Schreiber beschwert hatten, trat er schließlich im März dieses Jahres als Direktor zurück.
Seine Nachfolgerin Lavinia Frey kann „ihre erste ILB-Ausgabe“ als Erfolg verbuchen, denn rund 18.000 Gäste besuchten die 150 Veranstaltungen mit rund 150 Autorinnen und Autoren aus über 40 Ländern. Auch dieses Mal war die Bandbreite enorm: Neben einer Vielzahl von Lesungen gab es Diskussionen, Workshops und Vorträge. Und für Kinder und Jugendliche ein eigenes Programm. Zudem fanden „Lesungen hinter Gittern“, eine Taschenbuch-Tauschparty, eine Pop-up-Comic-Messe und ein Slam-Poetry-Event iranischer Dichter statt. Internationale Größen waren dabei wie etwa Booker-Preisträger und diesjähriger Friedenspreisträger Salman Rushdie. Seit dem Messerangriff, der ihm sein rechtes Auge nahm, ist der 76-Jährige äußerst selten in der Öffentlichkeit zu sehen. Er stellte in einer Live-Schaltung sein neuestes Werk „Victory City“ vor und diskutierte mit seinem deutschen Übersetzer Bernhard Robben und Daniel Kehlmann über seinen Roman, den Rushdie kurz vor dem lebensgefährlichen Attentat abgeschlossen hatte.
Im Rahmen des Specials „Words of Love and Hate“ stellte die in Kabul geborene Moshtari Hilal ihr Buch „Hässlichkeit“ vor – als Leseperformance zusammen mit der Schauspielerin Susana AbdulMajid. Die Autorin beschäftigt sich in ihrem Werk mit Schönheitsidealen, Selbstbildern und Selbstzweifeln. Ihre Spurensuche führt zu Darwins Evolutionstheorie, in Beautysalons in Kabul, zu Kim Kardashian und dem utopischen Ort im Schatten der Nase.
Unter der Programmüberschrift „The Art of Writing – die Kunst des Schreibens“ sprach Jeffrey Eugenides über Schreibtechniken und die Wichtigkeit der ersten Seite. Zudem las der US-amerikanische Autor erstmals öffentlich aus seinem neuen, noch unveröffentlichten Roman.
Neuentdeckungen stellten sich vor
Das Special „Echo. Echo: Magische Echos“ mit Shehan Karunatilaka, Ibtisam Azem und Bora Chung zog Interessierte in den Bann des „New Magical Realism“. Der Singhalese Shehan Karunatilaka gewann 2022 den Booker Prize mit seinem Buch „Die sieben Monde des Maali Almeida“. In diesem Roman webt der Autor mit Elementen des magischen Realismus einen Plot um den Kriegsfotografen und Zocker Maali Almeida – eingebettet in den Bürgerkrieg in Sri Lanka Anfang der 90er-Jahre. „Das Buch vom Verschwinden“ von Ibtisam Azem spielt mit der Idee, was wäre, wenn um Mitternacht die gesamte palästinensische Bevölkerung auf unerklärliche Weise verschwände, als ob sie von Außerirdischen entführt worden wäre. Plötzlich fahren keine Busse mehr, im Krankenhaus fehlen Ärzte und der beste Hummus-Laden bleibt geschlossen. Die koreanische Autorin Bora Chung ist vor allem für ihre Kurzgeschichten bekannt, die mit fantastischen Elementen und Horror-Motiven spielen. Ihre Kurzgeschichtensammlung „Cursed Bunny“ stand auf der Shortlist für den International Booker Prize 2022.
Auch andere Neuentdeckungen konnten sich in den elf Tagen in Berlin Gehör verschaffen. Dazu zählen unter anderem Ayanna Lloyd Banwo und Doireann Ní Ghríofa. Banwos Debütroman „When We Were Birds“ spielt auf einem Friedhof im fiktivem Port Angeles auf Trinidad, wo ein junger Rastafari arbeitet, um den sich eine Liebesgeschichte entspinnt. Ní Ghríofas Texte kreisen um Mutterschaft und Begehren, Tod und Familie. Die irische Dichterin und Essayistin mischt in ihren Texten gälisches und englisches Vokabular.
In Anknüpfung an aktuelle Debatten gab es gesellschaftspolitische Panels zu feministischen Themen und zu Geschlechterrollen, zur Gefährdung von Demokratien oder zur Situation der Frauen in Afghanistan. Etwa zeitgleich zum ersten Todestag der im iranischen Polizeigewahrsam verstorbenen Studentin Jina Mahsa Amini fand eine Podiumsdiskussion mit Navid Kermani, Gilda Sahebi und Amir Gudarzi zur Lage der Inhaftierten in Iran statt.
„Für die Zukunft wünschen wir uns eine noch stärkere Vernetzung das ganze Jahr hindurch mit der internationalen Szene in Berlin, die sich dann im Festival niederschlägt“ sagte die neue Direktorin Lavinia Frey abschließend. Darüber hinaus plane man, internationale Gäste in die inhaltliche Gestaltung des Festivals einzubinden, damit „die Vielstimmigkeit von Grund auf gewährleistet“ sei, so Frey.