Nach dem Überfall der Hamas auf Israel hat sich die Lage von Tag zu Tag immer mehr zugespitzt. Hunderttausende sind auf der Flucht. Die Furcht vor Eskalation und einem „Flächenbrand“ wächst.
UN-Generalsekretär António Guterres fand drastische Worte, mit denen er seine große Sorge und seine Appelle verband. Er sieht den Nahen Osten „am Rande des Abgrunds“. Weder die Freilassung der Geiseln noch der humanitäre Zugang zum Gazastreifen dürften „Verhandlungsmasse“ sein, sondern „müssen umgesetzt werden“.
Zum Zeitpunkt dieses eindringlichen Aufrufs war der neue Ausnahmezustand eine Woche alt, und die Situation nach wie vor völlig unklar. Über 600.000 Menschen sollen nach einer Warnung Israels auf der Flucht in den Süden des Gazastreifens sein. Ägypten hatte einen Krisengipfel einberufen, um den Umgang mit den erwarteten Flüchtlingen zu beraten. Israel hatte mit der Evakuierung von Grenzorten begonnen, ein weiteres Indiz für einen bevorstehenden Einsatz von Bodentruppen.
Palästinenserpräsident Mahmud Abbas hatte sich von den Terroraktionen der Hamas im Westjordanland distanziert. Die (säkulare) Fatah von Abbas rivalisiert seit Jahren mit der (islamistischem) Hamas im Gazastreifen um die Vorherrschaft, was die Vertretung der Palästinenser betrifft.
Die Lage wird, wie es scheint, immer unübersichtlicher und gefährlicher. Die Sorge vor einem Flächenbrand wächstweil es am Ende um Machtverteilungen geht. Dabei spielen Protagonisten eine entscheidende Rolle, die die unterschiedlichsten Terrorgruppen unterstützen, finanziell, und logistisch. Und an diesen rivalisierenden Staaten hängen wiederum letztlich auch globale Interessen.
Was in Berlin unmittelbar zu erleben war. Bundeskanzler Scholz stand sichtlich in einem außen- und sicherheits- aber auch wirtschaftspolitischen Spagat, als der Katarische Emir, Scheich Tamim bin Hamad Al Thani, in Berlin eintraf. Der Besuch war wohl im vergangenen Sommer nach dem LNG-Deal mit dem Emirat anberaumt worden. Eigentlich sollte es ein glanzvoller Termin mit schönen Bildern werden, wurde dann aber zu einem Arbeitsessen hinter verschlossenen Türen umfunktioniert. Selbst die geplante Pressekonferenz im Bundeskanzleramt fiel aus. Also keine Bilder von Kanzler Scholz neben Scheich Al Thani.
Das Verhältnis zu Katar ist wegen der Menschenrechtssituation ohnehin eine holprige Operation. Doch Deutschland braucht Katar, schon allein wegen der vereinbarten Gaslieferungen. Was wiederum eine Folge des russischen Überfalls auf die Ukraine ist. Katar gilt als möglicher Finanzier der Hamas, was aber nicht öffentlich belegt ist. Dass der Scheich trotzdem empfangen wurde, begründet Regierungssprecher Steffen Hebestreit mit den „humanitären Bemühungen“ des Golfstaats im Zusammenhang mit den von der Hamas aus Israel verschleppten Geiseln, unter denen sich auch Deutsche befinden sollen. „Es wurde vereinbart, hierzu in engem Kontakt zu bleiben“.
Es gehört zur Außenpolitik dazu, auch mit denen zu reden, mit denen es konfliktbeladene Verhältnisse gibt, wenn man Lösungen finden will – ohne dabei missverständliche oder falsche Signale zu senden.
Kompliziert ist die Lage auch innenpolitisch. Seltene Einmütigkeit aller im Bundestag vertretenen Parteien bei der Verurteilung des Hamas-Angriffs und der Solidarität mit Israel ist das eine. Das andere sind Bilder auf deutschen Straßen: pro-palästinensische Demonstrationen in Berlin und dem Ruhrgebiet, Duisburg oder Essen. In Duisburg kommt es zu befürchteten direkten Auseinandersetzungen. Eine pro-palästinensische Demonstration, organisiert von Samidoun, nach eigener Beschreibung ein palästinensisches Gefangenensolidaritätsnetzwerk, trifft auf eine nicht angemeldete Solidaritätskundgebung für die israelischen Opfer des Hamas-Terrorakts. Folglich eskaliert die Lage. Mittendrin deutsche Polizeibeamte. „Für uns ein Problem: Gehen wir gezielt gegen eine Gruppe der Demonstrierenden vor, heißt es entweder, wir sind antisemitisch oder ausländerfeindlich. Eine beinahe unlösbare Einsatzaufgabe, worauf auch mein Einsatzleiter keine Antwort hatte,“ bringt es ein Beamter gegenüber FORUM auf den Punkt.
Zahlreiche „Free-Palestine-Demos“ wurden zwar verboten, doch die Rechtsgrundlage ist schwierig. Mittlerweile sind bundesweit fast einhundert Verfahren gegen diese Verbote anhängig. Problem für die Gerichte ist, dass laut Verfassungsschutzamt Berlin zum Beispiel den pro-palästinensischen Verein Samidoun als Organisation einstuft, die Terrorismus unterstützt. Doch verboten ist der Verein bis zum heutigen Tag nicht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) will ein Verbot solcher Vereine erneut prüfen.
Zugleich soll es ein Betätigungsverbot für Hamas-Anhänger geben. Verbieten kann man die Hamas hierzulande nicht, weil sie als ausländische Organisation hier keine festen Strukturen hat, die man mit einem Verbot zerschlagen könnte. Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang betonte aber bereits: „Wir arbeiten mit allen zur Verfügung stehenden Kapazitäten, um die Umsetzung der Maßnahmen schnellstmöglich zu gewährleisten.“
Unterdessen diskutiert man im Bundessicherheitsrat die Möglichkeit einer multipolaren Eskalation von regionalen Konflikten. Die viel gestellte Frage, ob dahinter Russland stecken könnte, will selbst der erfahrene Sicherheitsexperte Professor Carlo Masala von der Bundeswehruniversität München nicht eindeutig beantworten. Die Gemengelage der verschiedenen Interessen ist zu kompliziert. Doch Masala prognostiziert, dass auf Europa eine völlige Neuausrichtung seiner Verteidigungs- und Militärstrategie zukommt (siehe Interview rechts).