In den ersten Wochen des neuen Jahres haben sich Protestaktionen nahtlos abgewechselt. Bei aller Berechtigung: Das Land hat auch noch andere Probleme.
Der Januar 2024 wird als Demonstrations-Januar in Erinnerung bleiben. Landwirtschaft, Transportgewerbe und Handwerk gehen, oder besser fahren, zu Zehntausenden auf Straßen und Autobahnen. Die Lokführer streiken, und auch im Einzelhandel gibt es immer wieder Arbeitsniederlegungen.
Die Anliegen der Protestierenden und Streikenden mögen ihre Berechtigung haben, für Schlagzeilen und Diskussionen sorgen sie allemal. Und das so sehr, dass fast der Eindruck entstehen könnte, dass an allen anderen Baustellen derzeit Winterpause herrschen würde.
Dabei wird durchaus an einigen anderen Gewerken gearbeitet.
Da ist zum Beispiel die von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) angedachte Krankenhausreform. Kernpunkt: Die seit 2003 geltenden Fallpauschalen sollen in der bisherigen Form abgeschafft werden. Zukünftig sollen die Kliniken 60 Prozent allein für die Vorhaltung von Behandlungsangeboten finanziert bekommen. Allerdings sollen sich die Krankenhäuser spezialisieren, also nicht jede Klinik soll alles machen können, die Kliniken sollen in Kategorien unterteilt werden. Nun befürchtet unter anderem der Krankenhausverband, dass dies zu einem weiteren Kliniksterben führen wird und die medizinische Versorgungsdichte noch weiter abnimmt. Die Zahlen sind dramatisch. 2019, also vor der Pandemie, gab es in Deutschland noch knapp 30.000 Klinikbetten. Ende letzten Jahres waren davon noch 20.000 übrig, in drei Jahren und, wohlgemerkt, mitten in der Corona-Zeit, verschwand ein Drittel der Klinikbetten in Deutschland. Verschiedene Gesundheits-Verbände befürchten, Ende dieses Jahres könnten es dann nur noch 17.000 Klinikbetten sein, wohl eher weniger. Das würde innerhalb von fünf Jahren fast eine Halbierung der Klinik-Kapazitäten bedeuten.
Massiver Reformbedarf
Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach nennt seine Krankenhausreformpläne schlicht eine „Revolution“. Verdi-Bundesvorstandsmitglied Sylvia Bühler dagegen bedauerte gegenüber FORUM, dass der Kompromiss „weit weg von einer Revolution“ sei. Begründet wird die Krankenhausreform damit, die Kostenstrukturen wieder in den Griff zu bekommen. Woran der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, erhebliche Zweifel hat, da die Reform „frühestens 2027“ finanziell überhaupt wirken würde. Bis dahin werde man „ganz viele Krankenhaus-Standorte verlieren“, so Gaß.
Eine andere Großbaustelle ist die sogenannte Wärmewende. Dazu gehört der Wärmeplan, der in den Ländern im Konkreten von den Kommunen erstellt und umgesetzt werden soll. Städte, Kreise und Gemeinden sollen bis spätestens 2028 konkrete Pläne aufstellen, wie sie ab dann die Wärmeversorgung ihrer Kommune gestalten wollen. Dabei sollen nicht nur Verwaltungsgebäude, Schulen, Kitas oder Krankenhäuser erfasst werden, sondern auch alle Wohngebäude, vom Häusle bis zur Neubausiedlung. Eine gigantische Aufgabe, die beinahe der Neufassung des Katasters, also des Registers aller Liegenschaften, gleichkommt, aber diesmal bezogen auf die Wärmeversorgung.
Das Gesetz zur Kommunalen Wärmeplanung ist seit Anfang des Jahres in Kraft. Ziel ist, die Treibhausgasemissionen im Gebäudesektor zu senken. Ohne Zweifel sinnvoll, aber die kommunalen Verwaltungen sind schon jetzt aufgrund chronischen Personalmangels völlig überlastet und sollen nun eine weitere Mammutaufgabe schultern.
Die drei großen kommunalen Verbände, Städte- und Gemeindebund, Deutscher Städtetag und Deutscher Landkreistag, schlagen diesbezüglich schon seit Monaten Alarm und warnen, dass so die Wärmewende nicht zu schaffen sei. Dabei haben sie kaum den Eindruck, dass ihre Bedenken groß Gehör finden. Parteiübergreifend haben etliche Bürgermeister und Landräte bereits angekündigt, dass sie diese Wärme-Daten so nicht liefern werden, weil sie es schlicht und ergreifend verwaltungstechnisch nicht hinbekommen. Damit steht der Wärmeplan der Bundesregierung auf mehr als wackligen Füßen.
Hätte Deutschland eine halbwegs digitalisierte Verwaltung, wäre dies vielleicht zu schaffen. Doch trotz aller Ankündigungen in den letzten Jahren bleibt Deutschland diesbezüglich weiter Entwicklungsland, und dieser Zustand wird wohl auch noch eine Weile erhalten bleiben. Das fängt beim Landrats- oder dem Bürgeramt an und zieht sich durch bis hin zur digitalen Gesundheitskarte. Wobei die gesetzlichen und privaten Krankenkassen mit dem Bundesgesundheitsministerium in Trippelschritten nun zumindest das digitale Rezept auf den Weg gebracht haben, das allerdings auch nur bedingt funktioniert. In den Ballungsräumen funktioniert es halbwegs, in den ländlichen Räumen eher nicht, was auch mit der Internet-Versorgung zu tun hat.
Ärgernis Bürokratie an vielen Stellen
Es war vor gut fünf Jahren, als der damalige Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) freimütig bekannte, dass er mit seinen ausländischen Amtskollegen nicht mehr von unterwegs von seinem Dienstwagen aus telefoniert, weil es einfach zu peinlich sei, wenn ständig die Verbindung abbricht. Soweit das Eingeständnis. Seinem Nachfolger Robert Habeck (Grüne) mag es diesbezüglich inzwischen besser gehen, aber die Bestandsaufnahme einer Republik auf dem Weg ins digitale Zeitalter lässt Wünsche – und vor allem Notwendigkeiten – weiter offen. Flächendeckendes 5G in den Ballungsräumen ist prima, hilft aber den Menschen außerhalb nicht weiter, wenn die teilweise immer noch auf den alten UMTS-Standard zurückgreifen müssen.
Die Bundesregierung hat zwar eine Digitalstrategie formuliert und auch ein Digitalisierungsministerium geschaffen (Volker Wissing, FDP, ist zuständig für Verkehr und Digitalisierung), aber die größte Wirtschaftsnation der EU liegt in Sachen Digitalisierung gerade mal auf Platz 13 innerhalb der EU (Quelle: Digital Economy and Society Index der Europäischen Kommission).
Kaum anders das Bild in Sachen Verkehrsinfrastruktur. Seit fast zwei Jahrzehnten ist klar, dass Straßen und Schienen dringend saniert werden müssen, doch viel passiert ist auch hier nicht. Im Verkehrsausschuss des Bundestages sprechen die Mitglieder für den Bereich Straße mittlerweile vom Verkehrsbingo. Der Bund stellt Gelder zur Verfügung, die Länder sollen sich dann zur anderen Hälfte bei Neubau und Sanierung beteiligen. Etliche Länder haben aber schlicht nicht die nötigen Mittel, dort geht es Kommunen genauso, weshalb die wiederum den Bund in der Pflicht sehen.
Der Bund seinerseits verweist auf die bereitgestellten Haushaltsmittel. Nur, die können teilweise mangels Kofinanzierung nicht abgerufen werden. Das geht seit Jahren so und wird vermutlich auch noch so weitergehen. Dabei scheint es völlig egal zu sein, wer gerade die Regierung stellt.
Die Liste der Baustellen ließe sich um etliche Beispiele verlängern. Dass aber auch Grundsätzliches infrage steht, haben die Demonstrationen und Kundgebungen der letzten beiden Wochenenden gezeigt. Millionen Menschen haben auf Plätzen und Städten in der ganzen Republik in eindeutiger Klarheit gezeigt, was sie von Deportationsplänen und überhaupt der Politik halten, für die die AfD steht. Und in einer großen bunten Vielfalt klar gezeigt, in welcher Republik sie leben wollen. An dem Punkt spielten dann die Ärgernisse um andere Baustellen tatsächlich erst mal keine große Rolle.