Das parteipolitische Spektakel des Jahres hat seinen vorläufigen krönenden Abschluss gefunden. Sahra Wagenknecht verkündet offiziell die Gründung einer eigenen Partei. Ansonsten ist vieles weiter unklar.
Ein großer, schwarzer SUV eines deutschen Automobilherstellers mit Hybrid-Motor surrt langsam die Auffahrt zum Eingang der Bundespressekonferenz hoch. Dutzende Fotografen und Kamerateams haben sich vor der Tür versammelt. Großes Polit-Kino steht an, wie sonst nur zur Sommer-Pressekonferenz des Bundeskanzlers. Doch diesmal ist der Reporter-Auftrieb noch größer, ein wahrer Staatsakt scheint anzustehen.
Dem SUV entsteigt Sahra Wagenknecht, zu diesem Zeitpunkt bereits „ehemalige Linken-Politikerin“. Drei Stunden vorher hat die 54-Jährige ihren Parteiaustritt – zusammen mit neun anderen Mitstreitern – dem Linken-Vorstand bekannt gegeben. Wagenknecht in einem lindgrünen Kostüm genießt sichtlich den medialen Mega-Auftritt. Betont langsam schreitet sie die Front der Fotografen und Kameras ab, bleibt immer wieder stehen, sehr zum Ärger der Personenschützer, um noch in das eine oder andere Objektiv zu lächeln.
An ihrer Seite Amira Muhamed Ali, die immer noch amtierende Fraktionschefin der Bundestagsfraktion der Linken. Sie wollte längst den Job los sein, aber es fand sich bislang kein Nachfolger. Zwei angesetzte Wahlen zu einer Neubesetzung des Vorstandes der Bundestagsfraktion der Linken scheiterten mangels Kandidaten. Keiner hat Lust auf Abwicklung. Und so erklärt damit erstmals in der bundesdeutschen Parlamentsgeschichte eine amtierende Fraktionschefin ihren Parteiaustritt, um eben diese Fraktion ihrer damit Ex-Partei weiter zu führen – und gleichzeitig als Vereinsvorsitzende von „Bündnis Sahra Wagenknecht“ eine Konkurrenz zur Linken zu formieren. Ein absolutes Kuriosum.
Inhaltlich soll die neue Partei, die aus dem Verein „Bündnis Sarah Wagenknecht“ entstehen soll, sowohl linke (Sozialpolitik) wie liberale (Wirtschaftspolitik) als auch rechte (Migrations-/Flüchtlingspolitik) Positionen vereinen.
„So kann es nicht weitergehen“
Konkret heißt das: Klare Kampfansage gegen klimapolitische Maßnahmen, Energie muss für alle bezahlbar sein. Es geht um soziale Gerechtigkeit. Ob das nun heißt, alle noch verfügbaren Atomkraftwerke wieder ans Netz zu bringen, ist dabei nicht ganz klar, aber Gas und Öl sollen wieder aus Russland bezogen werden, eine Forderung, die die AfD seit anderthalb Jahren aufstellt. Weg vom grünen Mainstream, hin zu „Vernunft“ in Wirtschafts- und Sozialpolitik.
Deutschland brauche wieder eine Entspannungspolitik, also Frieden schaffen ohne Waffen. Darum keine Waffenhilfe für die Ukraine. Zum Nahost-Konflikt schweigt sich Sahra Wagenknecht weitgehend aus. Auch hier gibt es politisch Parallelen zur AfD.
Bei der Aufnahme von Flüchtlingen und der Migration ein ähnliches Bild. Da soll, laut den ersten Einlassungen der beiden Haupt-Protagonistinnen Sahra Wagenknecht und Amira Muhamed Ali eine Melange zwischen Linke und AfD entstehen, um so die Protestwähler neu zu kanalisieren.
Was die Zielrichtung betrifft, betont Muhamed Ali gegenüber FORUM: „Es kann nicht sein, dass die Linke unter fünf, die AfD über zwanzig Prozent in den Umfragen liegt.“ Folgt man dieser Logik, dann ist die neu zu gründende Partei als AfD-Verhinderungs-Bündnis zu verstehen.
Während also Linken-Fraktionsvorsitzende „wider Willen“ Amira Muhamed Ali ihre politische Zukunft in der neuen Partei mit Sahra Wagenknecht vorbereitet, wurde ihr Co-Fraktionschef Dietmar Bartsch zum Konkursverwalter degradiert. Ausgerechnet Bartsch, einer der letzten deutschen Absolventen der Lenin-Hochschule in Moskau. Der 65-Jährige aus Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern bekleidet seit über 33 Jahren ununterbrochen Spitzenpositionen in der Linken und ist einigen Kummer mit seinen Genossen gewohnt. Er hat die wenigen Höhen und vor allem die vielen Tiefen seiner Partei seit der Wiedervereinigung miterlebt. Nun soll er also federführend die Bundestagsfraktion abwickeln, während seine Co-Vorsitzende mit der Gründung einer neuen Partei beschäftigt ist.
Dietmar Bartsch ist ein absoluter Pragmatiker und hat bereits Anfang Oktober den Vorgang hinter geschlossenen Fraktionstüren eingeleitet. Seinen Linken-Abgeordneten empfahl er im Umgang mit ihren Mitarbeitern: Sollten diese einen anderen Job in Aussicht haben, sie ohne weiteres Zögern ziehen zu lassen. „Das ist das, was mich am meisten ärgert am Verhalten von Sahra Wagenknecht. Wenn sie schon keine Rücksicht auf die Zukunft der Linken-Fraktion nimmt, ist das nicht schön. Dass ihr aber das berufliche Schicksal der 108 Fraktionsmitarbeiter dabei völlig egal ist, das hat wenig mit sozialer Verantwortung zu tun, die sie selber immer predigt.“
Unklare Zukunft der Fraktion
Der Zeitplan für die Abwicklung der Fraktion ist bereits vorgegeben. Dietmar Bartsch geht davon aus, dass wohl noch vor Weihnachten die Fraktion der Linken, zumindest in dieser 20. Legislaturperiode, Geschichte sein wird. Dann sind die verbliebenen Abgeordneten eine Fraktionsgruppe, zwar mit eigenem Büro, aber ohne Mitarbeiter, es sei denn, sie bezahlen diese dann aus der eigenen Tasche. Doch wie lange die Fraktionsgruppe Bestand hat, hängt davon ab, wann und in welcher Form in Berlin die Bundestagswahl wiederholt wird. Der Landeswahlleiter in Berlin hofft auf den 9. Juni, zusammen mit der Europawahl. Doch vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe kommen andere Signale, die Bundestagswahl in Berlin könnte bereits im Januar oder Februar wiederholt werden. Problem für die Linke dabei: Zwei ihrer drei Direktmandate, denen sie überhaupt ihren jetzigen Fraktionsstatus im Bundestag verdankt, wurden in Berlin geholt. Doch ob Gesine Lötzsch und Gregor Gysi ihre Direktmandate bei der Wiederholungwahl angesichts des derzeitigen Zustands der Linken verteidigen können, darf bezweifelt werden. Schaffen sie es nicht, wäre das dann auch mit einer zukünftigen Gruppe der Linken im Bundestag vorbei. Übrig bleiben würde dann lediglich ein Abgeordneter der Linken, der Direktkandidat aus Leipzig, Sören Pellmann.
Darum gibt es nach der Ankündigung einer Parteineugründung eine neuerliche Absetzbewegung bei den Bundestagsabgeordneten der Linken – nach dem Vorbild ihres ehemaligen Fraktionskollegen Thomas Lutze aus dem Saarland: Der ist Anfang Oktober kurzerhand aus der Linken aus- und in die SPD eingetreten. Damit wurde er Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion. So hat Lutze seinen Fraktionsstatus inklusive Büro und vor allem Mitarbeitern bis zum Ende der laufenden Legislatur buchstäblich über die Plenarebene gerettet. „Ich kann mir vorstellen, dass acht bis zehn Linke-Abgeordnete meinem Beispiel folgen werden“, vermutet Thomas Lutze gegenüber FORUM.
Genau das ärgert nun vor allem die beiden derzeitigen Vorsitzenden der Partei, Janine Wissler und Martin Schirdewan. „Wenn ein Abgeordneter sich nicht mehr mit der Politik der Linken identifizieren kann, dann kann er ja gern aus der Partei austreten, wir sind ein freies Land. Doch dann wäre es doch nur fair, dass er auch sein Mandat zurückgibt. Dies hat er ja mit den Inhalten der Linken gewonnen.“ Doch Janine Wissler macht sich gegenüber FORUM wenig Illusionen: Viele werden wohl austreten, aber auch ihr Mandat mitnehmen. Zwei haben dies bereits breitschultrig und mehr als selbstbewusst erklärt. Fraktionschefin Amira Muhamed Ali und selbstverständlich auch Sahra Wagenknecht geben ihr Bundestagsmandat nicht an die Linke zurück. Beide argumentieren, sie seien aufgrund ihrer Person und dann vielleicht auch noch wegen – oder trotz – der Linken-Inhalte gewählt worden.