Der vergleichende Blick zurück kann leicht in die Irre leiten
Bei „Loriot“ denken unsere französischen Nachbarn an einen Singvogel, die deutsche Übersetzung ist der Pirol. In Deutschland wird „Loriot“ mit dem bunt-schillernden „Spaßvogel“ oder, zutreffender, tiefsinnigen und hochgeschätzten Humoristen Vicco von Bülow assoziiert. Männliche Loriots beziehungsweise Pirole haben ein leuchtend gelbes Gefieder, ihr Gesang wird oft in ihrer Lautfolge als „büloo-büloo“ umschrieben. Der Pirol war übrigens das Wappentier des mecklenburgischen Adelsgeschlechts, dem der vor 100 Jahren geborene Vicco von Bülow entstammte.
Schon sein Künstlername ist also typisch Loriot. Das Triviale und beliebig Wirkende hat bei ihm eine tiefsinnige, humoristisch-entlarvende Hintergründigkeit. Das ebenso schräge wie einprägsame „Früher war mehr Lametta“ sollte wohl nicht banal ausdrücken: Früher war es schöner, goldener und glamouröser. Die Menge an Lametta ist ein mehr ulkiger als valider Maßstab, um das Jetzige und das Gestrige zu gewichten. Wir neigen aber dazu, vor allem wenn uns etwas derzeit nicht in den Kram passt, in der Mottenkiste der Historie zu wühlen, bis wir was Schöneres aus der „guten alten Zeit“ wehmütig präsentieren können.
Komischerweise haben früher diejenigen, die in diesen aus heutiger Sicht guten Zeiten lebten, das gleiche Klagelied gesungen und jede Generation davor ebenso. Sokrates hat vor 2.400 Jahren die schlechten Manieren, die Respektlosigkeit und Verwöhntheit der damaligen Jugend so kritisiert, dass er in zeitgemäßer Gewandung und mit gestutztem Dreitagebart in einer aktuellen Talksendung auftreten könnte.
In den derzeitigen „krisenreichen“ Zeiten hat die „Lametta-Reminiszenz“ Hochkonjunktur. Beispiele aus dem mir vertrauten Bereich der Medizin sind schnell gefunden. Hat man früher nach einem freundlichen Telefonat einen fachärztlichen Termin in sieben Tagen erhalten, so dauert es heute mal sieben Monate; vorher muss man noch eine Odyssee durch frustrane digital-telefonische Stimmautomaten überstehen. Auch die abenteuerlichen Schilderungen von Patienten in Notfallambulanzen oder bei stationärer ärztlicher und pflegerischer Betreuung befeuern „Früher war alles besser“.
Rationale, umfassendere Analysen führen zur nüchternen Einsicht: Früher war vor allem vieles anders, und bezogen auf medizinische Versorgung in der Regel für das Überleben und die Lebensqualität von Patienten deutlich schlechter. Heute hat die Medizin neue und gute, allerdings oft sehr aufwendige und personalintensive Optionen.
Endoskopien oder computerisierte bildgebende Methoden, „Schlüsselloch“-OPs, künstlicher Gelenkersatz, hocheffiziente Katheter-Manipulationen an Herz- und Hirngefäßen, neuartige medikamentöse Wirkstoffe und mehr sind ein Gewinn für viele Kranke. Alles hat natürlich seine Kehrseite: Bei Personalmangel, komplexerer Medizin und mehr älteren, multimorbiden Patienten bleibt für das Alltägliche oft weniger Zeit und Zuwendung übrig.
Kurzum: Ob Lametta oder Medizin, punktuelle Vergleiche mit früher fallen immer aus der Zeit und blenden vieles aus. Der Blick zurück wird schnell verschwommen, wenn man mit Scheuklappen nur einen Punkt ins Visier nimmt und stets abwägend mit einem Auge auf die Gegenwart und dem anderen auf die Vergangenheit schielt.
Bei Vergleichen schaut man zunächst nach rechts und links. Auf überschaubarem Terrain und ähnlichem Umfeld lassen sich die Verhältnisse gesellschaftlich klarer bewerten und diskutieren. Und natürlich ist auf Basis dieses Überblicks auch die Rückbesinnung essenziell.
Das Motto könnte sein: Was war früher gut und wie könnten wir es „reanimieren“ oder zeitgemäß entwickeln? Was ist in den letzten Jahren, obwohl wir es aus Erfahrungen besser wissen müssten, falsch gelaufen? Was ist nostalgische Verbrämung? Was sollten wir ad acta legen? Und nicht zuletzt: Was ist heute so wertvoll und gut, dass wir es schätzen oder übernehmen, pflegen und genießen sollten und zuversichtlicher nach vorne blicken können?