Wie Führung in einer komplexen Welt zu einem besseren Miteinander beitragen kann
Führung; wieso, weshalb, warum eigentlich? Eigenverantwortung lautet schließlich der Begriff der Stunde. In Zeiten technologischen Fortschritts und dezentraler Arbeit soll sie jeder entschlossen ergreifen. „Ich kann das schon“ oder „Niemand hat mir zu sagen, wo es lang geht“ lauten die Antworten derer, die mit sicherem Schritt auf dem Terrain der gewonnenen Freiheiten wandeln. Sie übernehmen stürmisch Projekte, antizipieren Trends wie ein Echolot und liefern Ideen auf Knopfdruck.
Doch was ist mit jenen, die nicht als Gewinner geboren wurden? Die nicht den Verve, das Selbstvertrauen besitzen, nach vorne zu preschen, sich souverän durch das Dickicht einer hochkomplexen Welt zu schlagen, während sie von allen Seiten wahllos mit Denkentwürfen und Handlungstipps überflutet werden. Diese Menschen benötigen – als Gegenentwurf – aufrichtige Aufmerksamkeit, durchdachte Worte von vertrauten und vertrauenswürdigen Personen, kurz gesagt: stabile Leitplanken.
Führung begegnet uns im Privatleben und im Job in facettenreichen Erscheinungsformen. Idealerweise werden dabei nicht stumpf Themen und Entscheidungen von oben herab diktiert. Führung entspringt bisweilen aus Liebe. Wenn der Vater seiner Tochter zeigt, welche Schritte sie beim Bau des Baumhauses befolgen sollte, schenkt er ihr Beachtung; er vermittelt ihr: „Du bist mir nicht egal.“ Die Tochter weiß, dass sie sich auf die Ratschläge und Anweisungen ihres Vaters verlassen kann, noch wichtiger: er es gut mit ihr.
Auch bei Freunden finden wir achtsame Führung. Ich werde geflutet von Trauer, weiß nicht, wohin mit mir. Rechts oder links? Denken und handeln? Zu schwach. Mein Freund legt die Hand auf meine Schulter und geleitet mich dorthin, wo ich Geborgenheit und Ablenkung finde. Er führt mich über eine Brücke; auf der anderen Seite warten bessere Zeiten.
Führung ist Integration. Wenn Jugend-Sportmannschaften Geflüchtete in ihren Reihen aufnehmen, stehen Pubertierende, die bislang nur selten führen mussten, und denen es „die schlauen Alten“ selbstredend nicht zutrauen, vor der Herausforderung, Menschen aus fremden Kulturen an die Hand zu nehmen, ihnen Trainingsabläufe, Techniken und Werte näherzubringen.
Das Schöne: Meist geschieht das intuitiv und selbstverständlich. Während Politiker wolkige Reden über die Chancen und Gefahren der Integration schwingen, wird hier, auf der „untersten Ebene“, einfach gemacht, ohne viel darüber zu philosophieren oder Lorbeeren für gelingendes Miteinander zu proklamieren – „Daily Business“ und gleichzeitig großes Kino.
Führung ist Kollegialität. Ein neuer Mitarbeiter hat seinen ersten Arbeitstag. Seine Kollegen erklären ihm „on the job“ die täglichen Rituale: Wann und wo kommt das Team zum gemeinsamen Frühstück zusammen? Wie ist die Arbeitszeit zu dokumentieren? Welche ungeschriebenen Gesetze gelten im Umgang mit der Chefin? Außerdem schauen sie dem „Frischling“ über die Schulter. Die Software erklärt sich nicht von selbst. Hier benötigt Führung vor allem: Geduld. Denn oft werden Funktionen und Zusammenhänge erst allmählich verstanden.
Die genannten Situationen können gewiss auch anders verlaufen: wenn der Vater das Baumhaus genervt selbst baut, der Geflüchtete lediglich zum Schleppen der Wasserkästen animiert wird, der neue Mitarbeiter in wütende Gesichter blickt, weil er immer noch nicht versteht, warum er welche Taste drücken muss.
Das Zauberwort lautet: Fingerspitzengefühl. Die Kunst besteht darin, ein exaktes Augenmaß zu entwickeln, wie viel Zutun und wie viel Freiraum im Miteinander angemessen ist. Empathische Menschen erspüren meist, wo sie sich zurücknehmen sollten und wann sie gebraucht werden; allen anderen sei geraten, mit zugewandten Worten und Gesten das Gefühl zu vermitteln, ansprechbar und hilfsbereit zu sein. Mehr braucht es nicht. Und wer weiß, vielleicht erwächst aus dem kleinen Zeichen eine große Kettenreaktion des Wohlwollens – und des daraus resultierenden positiven Führens.