Kernfusion könnte die Energieprobleme der Welt lösen: Sie soll klimafreundlich und sicher sein. Warum es trotzdem nicht so einfach ist.
Das kleinste Teil der Welt ist für Jan-Peter Bähner das Größte. An einem Mittwoch steht er am Eingangstor des Forschungsreaktors Wendelstein 7-X. Es ist das Herzstück des Max-Planck-Instituts für Plasmaphysik in Greifswald, nirgendwo sonst auf der Welt gibt es so eine moderne Fusionsforschungsanlage. Hier will Bähner aus zwei Atomkernen die Energiequelle der Zukunft erschaffen. „Alles Leben auf der Erde entstand, weil uns die Sonne mit Fusionsenergie versorgt“, sagt er, ein selbstbewusster 28-Jähriger mit Ohrring und Dreitagebart. „Wir arbeiten daran, wie wir die ursprünglichste aller Energieformen auf der Erde nutzbar machen können.“ Er schiebt den gelben Bauhelm auf seinem Kopf zurecht und schreibt ins Logbuch: „Bähner, 13.35 Uhr“ – die Tour beginnt.
Die Energiequelle der Zukunft
Jan-Peter Bähner ist Postdoc am Massachusetts Institute of Technology (MIT), einer der weltweit führenden Universitäten, und erforscht, wie sich Wasserstoffatome in Wendelstein X-7 bei sehr hoher Temperatur verhalten. Gemeinsam mit 400 anderen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen versucht er, ein altes Rätsel der Wissenschaft zu lösen: Seit rund 70 Jahren wird vermutet, dass mit Kernfusion der Energiehunger der Welt gestillt werden könnte.
Sie gilt als klimaneutral und effizient. Nur gibt es ein Problem: Kernfusion findet bisher nur weit draußen im Weltall statt. Im Innern von Sternen wie der Sonne. Bähner glaubt, dass man die Sonne auf die Erde holen kann. Aber zu welchem Preis?
Fünf Meter ist der Testreaktor hoch. Er wird angestrahlt von grellem Scheinwerferlicht. Stellarator heißt er, die Sternenmaschine. „Noch ist das hier alles ein Experiment“, sagt Bähner, „aber wir lernen immer Neues dazu.“ Er deutet auf silberfarbene Rohre, Messgeräte und Magnetspulen, die an dem runden Reaktor montiert sind – ein Geflecht aus Metall und bunten Kabelbäumen. Würde man alles abmontieren, sähe der nackte Reaktor aus wie ein riesiger Donut. „Wir befinden uns gerade in der Wartungsphase“, sagt Bähner. Der Reaktor ist abgeschaltet, aber Bähner möchte zeigen, worauf es bei der Kernfusion ankommt.
Im Prinzip ist Kernfusion ein überschaubarer Prozess: In der Sonne herrschen 15 Millionen Grad Celsius und ein Druck, der 200 Milliarden Mal höher ist als auf der Erde. „Unter diesen Bedingungen werden Wasserstoffatome so dicht aneinandergepresst, dass sie zu einem Heliumatom verschmelzen“, sagt Bähner und steigt eine Leiter hinab, die in das Baugerüst führt, das den Reaktor umgibt. In etwa könne man sich das so vorstellen, wie wenn im flüssigen Gestein der Erdkruste Kohlenstoff zu Diamanten gepresst werde, nur viel schneller und heißer. Verschmelzen die Atomkerne miteinander, wird Energie in Form von Hitze und Licht als Sonnenfeuer freigesetzt. Das Ziel der Experimente hier in Greifswald ist es, an diese Energie ranzukommen.
„Wir versuchen, die Reaktionen, die in der Sonne stattfinden, nachzubilden“, sagt Bähner. Da sie keinen so hohen Druck wie in der Sonne erzeugen können, erhitzen sie im luftleeren Inneren des Donuts Wasserstoffgas mit einer Art überdimensionierter Mikrowelle auf 100 Millionen Grad Celsius. Bei dieser Temperatur wird das Gas 100-mal dünner als Luft und reagiert auf Magnete. Jan-Peter Bähner nennt diesen Gaszustand „Plasma“. Es ist der gleiche Stoff, aus dem 99 Prozent der sichtbaren Materie im Universum gemacht sind, wie Sterne, Molekülwolken oder Sonnenwinde.
Die Herstellung von Plasma ist der letzte Schritt vor der Kernfusion. Es ist ein sehr fragiler Prozess, an dem Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen lange gescheitert sind. Sie konnten Plasma teils nur für wenige Sekunden herstellen, dann zerfiel es wieder. Zu hoch waren die Anforderungen an die Reaktoren. „Wenn wir es schaffen, Plasma dauerhaft zu kontrollieren“, sagt Bähner, „tauschen wir den herkömmlichen Wasserstoff aus gegen Deuterium.“ Die Kerne dieses schweren Wasserstoffelements fusionieren dann miteinander.
Plasma dauerhaft kontrollieren
Doch Plasma ist launisch. Weil es so heiß ist, rasen die Teilchen fast mit Lichtgeschwindigkeit umher. Die Plasmawolke ist ständig in Bewegung, sie verdreht und verwirbelt sich. „Wie genau diese Turbulenzen entstehen und wie sie sich entwickeln, habe ich in meiner Doktorarbeit herauszufinden versucht“, sagt Bähner. Kann er das Verhalten des Plasmas vorausberechnen, so kann er es kontrollieren. Dafür nutzt er die kniehohe Aluminiumkiste vor sich auf dem Boden. „Spiegelbox“ nennt er das Messinstrument. Darin sind zwei pfannengroße Spiegel in einem 90-Grad-Winkel aufgestellt und auf der gegenüberliegenden Seite ein offenes Rohr, das durch die Wand der Box ins Innere des Reaktors führt. „In der Experimentierphase leiten wir über die Spiegel einen Infrarotlaser in das Plasma“, sagt Bähner. So misst er die Geschwindigkeit, die Form und das Verhalten der heißen Teilchenwolke.
Damit er das Plasma untersuchen kann, müssen die geladenen Teilchen im Reaktor in Schach gehalten werden. Würden sie die Innenwand berühren, würde das Plasma erlöschen. Er deutet auf die Metallverschalung des Reaktors neben sich, darunter verbirgt sich eine von 70 Magnetspulen. „Ohne die würde hier gar nichts klappen“, sagt er. „Sie erzeugen ein Magnetfeld, das das Plasma im Inneren der Maschine in der Schwebe hält.“
Darin ist Bähner mit seinem Team allen anderen einen Schritt voraus. Am 15. Februar 2023 setzten sie den Plasma-Weltrekord. 480 Sekunden konnte das Plasma von den Magnetspulen stabilisiert werden. „Der Test hat mir gezeigt, dass wir auf dem richtigen Weg sind“, sagt er.
Eigentlich wollte Bähner seiner Leidenschaft nachgehen und Gitarre studieren. Heute spielt er nach Feierabend oft Lieder des spanischen Gitarristen Francisco Tárrega auf seiner klassischen Konzertgitarre. Während seiner Abizeit begann er, sich für Energieerzeugung, Umweltschutz und die Klimakrise zu interessieren. Er schaute Arte-Dokus und verschlang Bücher wie David MacKays populärwissenschaftliche Einführung „Sustainable Energy – Without the Hot Air“.
„Nur wenn man den Klimawandel versteht, kann man ihn abwenden“, sagt er. Er hoffte, Antworten in einem Physikstudium zu finden, und schrieb sich mit einem 1,2er-Abi für den Bachelor an der RWTH Aachen ein. Zum Ende des Studiums entdeckte er bei einer Vorlesung zum Thema Experimentalphysik schließlich die Kernfusion. „Die Aussicht, dabei zu helfen, der Menschheit eine neue Form der Energiegewinnung zugänglich zu machen, faszinierte mich sofort“, sagt Bähner. Allerdings widmen sich nur wenige Unis der Plasmaphysik. „Es ist eher ein Nischenthema“, sagt er. Also ging er für seinen Master nach London ans Imperial College. 2019, als er in Greifswald an seiner Promotion arbeitete, kam er in Kontakt mit dem MIT. Die US-Universität kooperiert schon länger mit Wendelstein 7-X. Heute ist Bähner so etwas wie ein wissenschaftlicher Diplomat, er forscht in Greifswald mit seinem Team, teilt die Ergebnisse aber auch mit den Kollegen und Kolleginnen in Massachusetts. Am Ende arbeiten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen auf der gesamten Welt zusammen, um ein fusionsfähiges Kraftwerk zu entwickeln.
Aber erst, wer das Plasma kontrolliert und Materialien findet, die die hoch erhitzte Dauerlast aushalten, kann einen Reaktor bauen und Fusionsenergie extrahieren. In der Theorie funktioniert das so: Der Reaktor fängt hochenergetische Teilchen auf, die bei der Fusion des heißen Wasserstoffs zu Helium entstehen. Diese Teilchen erhitzen Wasser, das sich in Dampf verwandelt und schließlich eine Turbine antreibt, die Strom erzeugt.
Ein Gramm Brennstoff könnte 90.000 Kilowattstunden Energie erzeugen, ohne die Umwelt mit CO2 zu verschmutzen. Das entspricht ungefähr der Verbrennungswärme von elf Tonnen Kohle. „Damit könnte man etwa 20 Familien ein Jahr lang mit Strom versorgen“, sagt Bähner. Kernfusion könnte also der Schlüssel sein, um die Klimakrise langfristig zu bewältigen. Aber ist sie auch sicher?
Schlüssel für die Klimakrise?
Im 20. Jahrhundert wurden in Deutschland 37 Atomkraftwerke gebaut. Kernspaltung war gerade als neuer Energieträger entdeckt worden. Sie galt damals als klimaneutral, effizient und sicher. Doch dann kam es am 26. April 1986 in Tschernobyl in der Ukraine zum GAU und die Kernschmelze in Block 4 setzte ein und am 11. März 2011 kam es zum Reaktorunfall im japanischen Fukushima. In beiden Ländern wurden ganze Landstriche mit atomarem Smog für sehr lange Zeit verseucht, Tausende starben und die Folgen werden noch Jahrzehnte lang sichtbar sein. Der Preis war sehr hoch für den Traum energetischer Unabhängigkeit.
„Mit Kernfusion kann das nicht passieren. Im Unterschied zur Kernspaltung ist das eine physikalische Gewissheit“, sagt Bähner. „Wenn im Fusionsreaktor die Hitze abnimmt, erlischt das Plasma. Ganz einfach.“ Das sei so ähnlich wie, wenn einer Kerzenflamme der Sauerstoff ausgehe.
Dieses Versprechen scheint sowohl die Politik als auch die Wirtschaft überzeugt zu haben. Rund vierzig Start-ups glauben, Kernfusionsenergie bald vermarkten zu können. Vier von ihnen sitzen in Deutschland: Marvel Fusion, Focused Energy, Proxima Fusion und Gauss Fusion. Erst kürzlich sprach Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger (FDP) ihnen 90 Millionen Euro zu. Bis 2045 – so das Ziel – sollen sie ein marktreifes Kernfusionskraftwerk entwickeln. Insgesamt eine Milliarde Euro ist für die Erforschung von Kernfusion in den kommenden fünf Jahren vorgesehen – ein Teil davon wird an Bähner und sein Team am Max-Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifswald gehen.
Für den Physiker Michael Dittmar, der am Teilchenforschungszentrum CERN in Genf forscht, ist das rausgeschmissenes Geld. Für die Grünen-Fraktion im Bundestag hat er ein Gutachten über „ITER“ geschrieben und eine vernichtende Bilanz gezogen. „ITER“ ist ein Fusionsreaktor, der als gemeinsames Forschungsprojekt von China, Indien, Japan, Russland, Südkorea, der EU und den USA entwickelt wird. Doch der Bau verzögert sich schon um zehn Jahre und wird 20 Milliarden Euro verschlingen. Zwar soll er in Südfrankreich 2025 fertiggestellt sein, doch ob „ITER“ am Ende überhaupt taugt, um Strom zu erzeugen, ist unklar. Erste belastbare Testergebnisse sollen 2040 vorliegen.
Ein weiteres Problem ist: Komplett umweltfreundlich ist die Kernfusion nicht, auch sie produziert radioaktive Abfälle. Zwar weniger als in der konventionellen Atomkraft, aber einzelne Bauteile im Innern des Reaktors werden bei der Kernfusion radioaktiv kontaminiert. Also müssen sich Bähner und seine Kollegen und Kolleginnen fragen: Wohin mit dem radioaktiven Müll? Eine abschließende Antwort ist noch nicht gefunden. „Aber wir forschen daran, passende Materialien zu finden, die nur kurze Zwischenlagerungen erfordern.“
Produziert radioaktiven Abfall
Im Sommer 2024 wird in Wendelstein 7-X ein nächster Praxistest durchgeführt. Bähner und sein Team werden den Reaktor dann hochfahren, Wasserstoff in seinen Kern leiten, es zu Plasma erhitzen und sein Verhalten messen. Dieses Mal will er das Plasma mit den Magnetspulen bis zu 30 Minuten lang kontrollieren. „Wendelstein 7-X ist wie eine Testfahrt mit einem neuen Rennwagen: Man gibt beim Starten nicht direkt Vollgas“, sagt er. In 30 Jahren, schätzt er, könne man Haushalte mit Kernfusionsenergie versorgen. Ob das dann aber überhaupt noch jemand haben will, kann auch er nicht sagen. Wind und Solarenergie könnten den gesamten Energiehaushalt bis dahin abdecken.
Im Kontrollzentrum im angrenzenden Gebäude neben Wendelstein 7-X nimmt Jan-Peter Bähner auf einem Bürostuhl vor vier Bildschirmen Platz. Zahlenreihen und Computercode flirren darauf. Er drückt eine Taste. Lautsprecher senden Schallwellen in die Aluminiumkiste. Sie bringen die Luftpartikel im Rohr des Lasers zum Vibrieren, das soll das Verhalten der Plasmateilchen im Reaktor simulieren. Aber es passiert: nichts. Er kneift die Augen zusammen und rückt näher an die Bildschirme. Auf dem Bildschirm sollte eine Sinuskurve zu sehen sein. Aber da ist nichts. „Kann sein, dass es beim Anschließen Probleme gab.“ Er zuckt mit den Schultern. Fehler wie dieser entmutigen ihn nicht, denn für ihn ist gewiss: „Die Frage ist nicht, ob Kernfusion kommen wird, die Frage ist nur, wann.“