Der FC Barcelona ist in einen Manipulationsskandal verwickelt. Er bezahlte jahrelang Millionen an den Vizepräsidenten des spanischen Schiedsrichterkomitees. Der Eklat führt bis in die Tiefen des spanischen Fußballs.
Vor ein paar Wochen, da witzelte Xavi, Trainer des FC Barcelona, noch über die angebliche Nachsichtigkeit der Schiedsrichter mit der aggressiven Spielweise des Barcelona-Mittelfeld-Talents Gavi. „Das kommt von den Erfindern des ‚Villarato‘ und des Dopings – oder?“, witzelte er unter Anspielung auf zwei Verschwörungstheorien, mit denen zur größten Zeit seines Vereins dessen Erfolge bezweifelt wurden. Diese Zweifler kamen meist, durch die historische Rivalität begründet, aus der Hauptstadt des Landes. Seit geraumer Zeit können diese Vorwürfe jedoch nicht mehr so locker weggelächelt werden. Sportlich läuft es ordentlich, Xavis Mannschaft führt die Tabelle der spanischen Liga mit Abstand an, musste sich in der Europa League jedoch Manchester United geschlagen geben.
„Schadet dem ganzen Fußball“
Über die große Vergangenheit gibt es nun handfeste Vorwürfe, die sogar handfester sind als jener, unter dem einstigen Fussball-Verbandschef Villar sei Barça systematisch bevorzugt worden oder gar die versuchte Rufmordkampagne mit dem Doping. Dieser Verdacht kommt ursprünglich auch nicht aus Madrid, sondern wurde zunächst von der katalanischen Redaktion des Radiosenders Ser publiziert – auf der Basis von Ermittlungen des Finanzamtes sowie der Staatsanwaltschaft. Und vor allem: Sie scheinen wahr. Doch worum geht es? Ab 2001 und bis 2018 bezahlte Barça einer Firma des Vizepräsidenten des spanischen Schiedsrichterkomitees knapp sieben Millionen Euro. Der Mann heißt José María Enríquez Negreira und pfiff bis 1992 in der Ersten Liga. 1994 erhielt er sein Verbandsamt, ein Jahr später gründete er sein Unternehmen Dasnil 95 – bereits da hat die Zusammenarbeit mit dem Verein wohl begonnen. Weder Zahlungen noch deren Adressat oder Höhe werden vom FC Barcelona bestritten. Die Sportzeitung „Marca“ schreibt vom „größten Skandal der spanischen Fußballgeschichte“. 40 der 42 Erst- und Zweitligaclubs forderten daraufhin in einer gemeinsamen Erklärung umfassende Aufklärung und gegebenenfalls Konsequenzen. „Wenn sich das bestätigt, ist es schwerwiegend und schadet dem ganzen spanischen Fußball“, sagte der Sportminister Miquel Iceta.
Um die „Marke Spanien“ fürchtet gar schon die Regierungssprecherin Isabel Rodriguez. Bis jetzt ermitteln die Behörden nur gegen Negreira wegen des Verdachts auf Steuerdelikte und Korruption. In einem möglichen Strafverfahren könnte jedoch auch Barça zum Beschuldigten werden. Sportrechtlich muss der Club erst einmal wenig befürchten, denn selbst schwere Vergehen in diesem Bereich verjähren in Spanien nach drei Jahren. Allerdings bliebe die Gefahr von Sanktionen durch Fifa oder Uefa. Barça mit seinem Präsidenten Joan Laporta, der bereits zwischen 2003 und 2010 amtierte, hat eine externe Untersuchung einleiten lassen und will bis dahin mit weiteren Statements warten. Fürs Erste ließ man verlauten, Dasnil 95 habe Profilanalysen von Unparteiischen für Spiele der Ersten und Zweiten Mannschaft erstellt – so etwas sei gängige Praxis. Tatsächlich beschäftigen viele spanische Clubs auch für das Thema Schiedsrichter eigene Experten. Aber: keine, die gleichzeitig beim Verband in Amt und Würden stehen. Und schon gar nicht für solche Summen. Noch grotesker wird die Angelegenheit durch eine kolportierte Aussage von Negreira vor den Behörden. Danach habe Barça gewährleisten wollen, „dass alles neutral gepfiffen wird“.
Schiedsrichter und Spanien, das ist ein schier unerschöpfliches Thema. Die Schuld für Niederlagen wird schon im Kinderfußball grundsätzlich bei den Unparteiischen gesucht, und auch in Erstligastadien kann eine falsche Entscheidung beim Stand von 5:0 mehr Emotionen wecken als jedes Traumtor. Über sehr lange Zeit wurde in Spanien viel Landschaftspflege im Schiedsrichterwesen praktiziert. Bereits 2009 nahm Real den soeben abgetretenen Profischiedsrichter Carlos Megía Dávila ins Organigramm auf, um Berichte über die Kollegen anzufertigen und Beziehungspflege zu betreiben. Aber sieben Millionen Euro? Für Neutralität, eine vermeintliche Selbstverständlichkeit? Paranoia? Bestechungsabsicht? Erpressung durch einen Hochstapler? Fürs Erste stehen alle Hypothesen offen – und fügen sich in ein Possenspiel, das viele Einheimische dieser Tage mit dem selbstironisch-fatalistischen Satz kommentieren, den sie gern auch für Korruptionsaffären in der Politik benutzen: „Spain is different.“ Auch die Hauptfigur der Affäre scheint aus einer anderen Zeit zu stammen. José María Enríquez Negreira wird von Schiedsrichterkollegen dieser Tage als ein Mann gezeichnet, der nicht viel machte, aber umso mehr von sich behauptete, der mit seinem Einfluss prahlte und eine kleine Dynastie aufbaute. Verwalter seiner Firma war der Sohn Javier, der nebenher als Mentalcoach für Schiedsrichter auftrat. Laut anonymen Stimmen aus der Zunft verpflichteten ihn mehrere Unparteiische, offenbar auch mit dem Hintergedanken, bei seinem Vater zu punkten. In dessen Komitee wurde schließlich über die für die Karriere entscheidenden Auf- und Abstiege von Schiedsrichtern entschieden. Javier Negreira trat zumindest in den späteren Jahren auch dem FC Barcelona gegenüber als Gesicht der Firma auf. Bei Heimspielen im Camp Nou soll er bisweilen die Unparteiischen betreut haben.
Negreira leidet an Alzheimer
Fassungslos verfolgen viele Fans dieser Tage, wie ihr Verein offenbar ein Selbstbedienungsladen für Korruption war. So erfolgten die Zahlungen von Barça an Negreira nach diversen Presseberichten über Scheinfirmen seines Sohnes und der kürzlich verstorbenen früheren Barça-Führungskraft Josep Contreras. Dieser soll Kommissionen von bis zu 50 Prozent eingestrichen haben. Da verwundert es noch weniger, dass der Club unter Milliardenverbindlichkeiten leidet. Als Hauptgrund für die Schieflage gelten die exorbitanten Spielerverträge unter dem früheren Präsidenten Josep Maria Bartomeu, aber offenbar war der Verein auch sonst nicht gerade knauserig. Wegen der Schulden und obskurer Verleumdungskampagnen gegen Oppositionelle und sogar Clubspieler in den sozialen Netzwerken gilt die Bartomeu-Ära für die Anhänger sowieso als dunkle Zeit. Doch die derzeitige Affäre umfasst potenziell auch die goldene Epoche der Clubgeschichte, das verlorene Paradies vieler Fans, als der Verein noch als moralischer Standard galt. Mit dem Trainer Josep Guardiola, dem Star Lionel Messi und seinen kongenialen Assistenten wie Xavi und Iniesta. Jetzt haben Enthüllungen aus dem Verein selbst verursacht, was feindliche Kampagnen nie erreichen konnten: dass diese sportlich über alle Zweifel erhabene Mannschaft von einem hässlichen Fleck beschmutzt wird.
„Vorher gehe ich nach Hause!“
Im ursprünglichen Untersuchungszeitraum des Finanzamts, dessen Ermittlungen wegen Zahlungseingängen bei Negreira von 1,4 Millionen Euro zwischen 2016 und 2018 ohne erkennbare Gegenleistungen begannen, konnte Barça auf ein selbst für eine offensive Mannschaft ungewöhnlich positives Verhältnis bei den Elfmeterpfiffen blicken (30 für sich, nur drei gegen sich). Barcelona erlebte Anfang 2017 aber auch eine berühmte Fehlentscheidung, als im Spiel bei Betis Sevilla ein Tor aberkannt wurde, obwohl der Ball um einen Meter die Linie überschritten hatte. Bartomeu agierte in jenen Jahren als Spaniens hartnäckigster Advokat für Torlinientechnologie und Videobeweis. Was kaum nötig gewesen wäre, hätte er die Schiedsrichter auf seiner Seite gewusst. Von Negreira selber wird man über sein Wirken womöglich nie Genaueres erfahren. Seine Anwälte sollen ein medizinisches Gutachten eingereicht haben, wonach der 77-Jährige unter Alzheimer leide und nicht mehr vernehmungsfähig sei. Und so bleiben bis auf Weiteres etliche Ungereimtheiten einer mysteriösen Kooperation, bei der nicht einmal ihr Ende den FC Barcelona so wirklich entlastet. 2018 kündigte Barça die Zusammenarbeit, angeblich aus Kostengründen. Doch es war auch der Sommer, als Negreira aus seinem Verbandsamt ausschied. Der frühere Schiedsrichter soll gegenüber Bartomeu daraufhin mit Enthüllungen gedroht haben. „Barça muss die ganze Wahrheit sagen“, fordert nun selbst die clubnahe Presse wie „Sport“, die der Affäre anfangs deutlich weniger Raum bot als die Medien des übrigen Landes. Xavi kann derweil nur seinen Sportsgeist betonen: „Ich würde niemals mit Schummeleien gewinnen wollen. Vorher gehe ich nach Hause.“ Dieser Schatten wird nicht verschwinden – möglich, dass er einen der größten Vereine der Welt in die Knie zwingt.