Dort, wo früher an BVG-Bussen geschraubt wurde, lädt Musik-Enthusiast Christoph Schreiber mehrmals pro Woche zum Piano-Salon Christophori ein. Auf dem Programm stehen dabei oft Liederabende, Klaviertrios oder vierhändige Musik.
Der Weg zum Konzert führt an orientalischen Bäckereien, Teestuben und Schaufenstern mit bunt-glitzernder Brautmode vorbei. Eine dunkle Seitenstraße – dann landet man auf dem Industriegelände der ehemaligen Omnibus- und Straßenbahnwerkstatt. Und in der einstigen Maschinenhalle, die sich mehrmals pro Woche in einen Konzertort verwandelt.
Ein bisschen wirkt der hohe lang gezogene Raum wie eine Mischung aus Trödelmarkt und Handwerkerkeller. Historische Flügel stehen dicht an dicht; unversehrt sind die wenigsten. Einem Instrument quellen lose Saiten aus dem Bauch; daneben liegt der hölzerne Rahmen eines ausgeschlachteten Exemplars. Und dazwischen stapeln sich Werkzeuge und Ersatzteile.
Tagsüber werkelt hier Arzt und Konzertveranstalter Christoph Schreiber mit Hobeln, Schleifpapieren und Schraubzwingen, um die reparaturbedürftigen Instrumente wieder auf Vordermann zu bringen. Abends ist er Gastgeber – freilich einer, der in Jeans und Kapuzenpulli empfängt, Gäste mit Handschlag oder Umarmung begrüßt und mit den Künstlern auch mal ein Bier trinkt.
Schreiber hat keine Mühe, auftrittswillige Künstler zu finden, obwohl diese im Piano-Salon für einen Bruchteil ihrer gewohnten Gage spielen. Da gibt es Nachwuchsmusiker, die im heiß umkämpften Berliner Markt einen Fuß auf den Boden kriegen wollen. Plattenfirmen wünschen sich ein „authentisches" Umfeld, um neue Alben vorzustellen. Und international etablierte Musiker möchten hier endlich mal das aufführen, was ihnen selbst gefällt – ohne Rücksicht auf die kommerziellen Interessen des Veranstalters nehmen zu müssen.
„Musiker können bei uns auch neue Programme testen oder Stücke aufführen, die sich sonst nirgendwo verkaufen ließen", meint der Salon-Herr, der den Künstlern bei der Zusammenstellung der Programme freie Hand lässt. „Wir haben ein sehr aufmerksames Publikum, das eine unmittelbare Rückmeldung gibt. Manche Musiker haben mir schon gesagt, sie hätten noch nie ein so konzentriertes Publikum erlebt."
Die Besucher wiederum genießen die ungezwungene Atmosphäre vor der aus Spanplatten gezimmerten Bühne. Sie sitzen in kunterbunt zusammengewürfelten Stuhlreihen. Schummriges Licht kommt von Stehlampen, die so aussehen, als hätten sie gestern noch Omas gute Stube beleuchtet. Garderobiere oder Dresscode? Fehlanzeige. Viele Konzerte kosten noch nicht einmal Eintritt. Nach dem Schlussapplaus spendet jeder, so viel er möchte. „Hier geht es nicht um erstarrte Rituale und Etikette", betont Christoph Schreiber. Er will einen unprätentiösen Rahmen schaffen, in dem man klassische Musik ohne jegliche Einstiegshürden hören kann.
Schreiber, der hauptberuflich als Neurologe in einer Klinik arbeitet, wurde per Zufall zum Konzertveranstalter. Der gebürtige Prignitzer, der seit seiner Kindheit Klavier spielt, ersteigerte eines Tages einen reparaturbedürftigen Hammerflügel. „Der Klavierbauer wollte dann für drei Handgriffe riesige Summen haben", erinnert er sich. „Also besorgte ich mir Fachbücher, schaute anderen Klavierbauern über die Schulter und restaurierte das Instrument selbst." Der Hammerflügel wurde zum Grundstock einer Sammlung, die heute mehr als 100 Instrumente zählt.
In der Tradition der musikalischen Salons
Zuerst mietete Schreiber in Prenzlauer Berg eine kleine Werkstatt, in der er an seinen Flügeln herumschraubte und natürlich auf ihnen spielte. Bald fanden sich befreundete Musiker ein. Das Musizieren im privaten Rahmen entwickelte sich zu öffentlichen Konzerten. Dann aber wurde das Haus verkauft, Schreiber musste in der Folge noch mehrmals umziehen, bis er schließlich in den Uferhallen im Wedding Unterschlupf fand. Zu jenem Zeitpunkt füllten die Instrumente und das Drumherum schon mehrere Lkw.
Seit 2007 sind in den Uferhallen, die zuvor den Berliner Verkehrsbetrieben gehörten, Künstler und Kreative mit ihren Ateliers und Werkstätten untergebracht – eigentlich ein ganz passendes Umfeld für den Piano-Salon. Großmieter auf dem Gelände ist Adidas –
das Unternehmen hat hier auf 3.500 Quadratmetern vor allem für die Kids einen riesigen Indoor-Fußballplatz aus dem Kiez eingerichtet.
Als sich der Sportartikel-Hersteller 2015 in den Uferhallen niederließ, musste Christoph Schreiber innerhalb des Geländes erneut umziehen. Er nahm das zum Anlass, um Werkstatt und Konzertsaal räumlich voneinander zu trennen.
„Vorher gab es einfach zu viel Staub und Dreck", erzählt der klavierbauende Veranstalter. „Außerdem hat die neue Halle eine bessere Akustik."
Sein Saal bietet nun 200 Sitzplätze. Mehr als 180 Konzerte finden jedes Jahr statt, die Schreiber hauptsächlich im Alleingang organisiert, mit Unterstützung von ein paar musikbegeisterten Freunden. „Ich mache hier alles", sagt er, „bin Impresario, Buchhalter, Moderator und Getränkelieferant in Personalunion."
Kurzerhand hat er die Abläufe vereinfacht: Der Besucher reserviert online, bei Ankunft findet er seinen Namenszettel auf einem Stuhl. Meist wird am Ausgang gespendet. Trotzdem bleibt der bürokratische Aufwand enorm: An die 100 E-Mails arbeitet Schreiber jeden Tag ab.
Der Piano-Salon Christophori steht in der Tradition der musikalischen Salons aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Vorbild ist der berühmte Pariser Klavierbauer Sébastien Erard, dessen innovative Instrumente europaweit von Virtuosen und Komponisten geschätzt wurden: Felix Mendelssohn Bartholdy, Franz Liszt oder Richard Wagner. Erard führte neben seiner Pariser Werkstatt ebenfalls einen Musiziersalon.
Christoph Schreiber besitzt selbst einige der wertvollen historischen Erard-Flügel, die er zuweilen für Auftritte zur Verfügung stellt. Er beschreibt sie als „leise, aber äußerst klangschön. Seine Sammlung umfasst aber auch Bechstein-Instrumente oder jenen samtweich klingenden Flügel aus der Werkstatt von William Challen, den die britische BBC-Rundfunkanstalt 1940 speziell für ihre Kammermusik-Aufnahmen bauen ließ. „Letztlich hat jedes Instrument seine eigene Persönlichkeit", stellt Schreiber fest.
An einem einzigen Konzertabend können auch mal drei verschiedene Klaviere zum Einsatz kommen – für jeden Stil und jede Epoche das passende Exemplar. Mittlerweile sind es so viele Instrumente, dass Schreiber das aktive Sammeln eingestellt hat. „Meine Wunschliste ist komplett. Inzwischen stehen hier 150 Flügel", seufzt er. „Nie im Leben schaffe ich es, alle zu restaurieren." Nun vergrößern höchstens noch Schenkungen die Sammlung.
Und die Konzerte? Schreiber sieht es als Geschenk an, die Musik aufführen zu können, die er und die beteiligten Künstler für interessant halten. „Der Laden ist trotzdem voll", grinst er. Und fügt hinzu, dass der Steuerberater schon mal angesichts der moderaten Eintrittspreise – bei Kammerkonzerten kostet das Ticket 25 Euro – die Hände über den Kopf zusammenschlage. Kostendeckend sei der Piano-Salon nicht, das sei klar. Aber genauso klar ist für Schreiber, dass er weiter viel Energie und Zeit in diesen ganz besonderen Ort investieren wird – zur Freude ganz unterschiedlicher Konzertbesucher, die in der Weddinger Maschinenhalle Musik auf hohem Niveau erleben können.