Die Spannung steigt ins Unermessliche, wenn sich ein Vampir von hinten anschleicht und Stephan Graf von Bothmer in die Tasten haut. Der Musiker holt historische Filme in die Gegenwart – und rettet so Kunstwerke vor dem Vergessen.
In der Kapelle des Brandenburger Friedhofs Stahnsdorf fand ein ziemlich bemerkenswertes Konzert statt: Stephan Graf von Bothmer begleitete den Stummfilm „Nosferatu“ auf dem Klavier – unweit der Gruft des Regisseurs F. W. Murnau. Kurioses und Rares hat sich zu einem Markenzeichen des 52-jährigen Musikers entwickelt. Seit 1998 veranstaltet er seine Stummfilm-Konzerte, und immer sitzt er selbst am Flügel, an der Kinoorgel oder an einem E-Piano. Jede Filmvorführung ist ein Unikat, auch wenn er Klassiker wie den schwarz-weißen Gruselstreifen schon über 400-mal gespielt hat. „Wenn eine bestimmte Stelle kommt, mache ich sie doch anders“, erklärt er. „Mal schauen, was passiert – und das sind meist die besten Momente in der Vorführung“.
Schon über 1.000 Stummfilme vertont
Dabei bereitet sich von Bothmer intensiv auf die cinemaskopische Begleitung vor. Das Besondere ist, dass er nicht auf alte Partituren zurückgreift, sondern seine eigene Musik komponiert. „Ich habe schon über 1.000 Stummfilme vertont und Einführungen für das Programmheft geschrieben“, sagt er. Neue Filme findet er über Tipps von Freunden und Fachleuten. Mancher würde zwar „Metropolis“ kennen, aber es gäbe noch so viel bessere fast vergessene Filme, die allerdings häufig nur noch in Fragmenten bestünden. Fans würden weltweit in Archiven suchen, wenn sie eine Spur hätten, doch unzählige Originale und ihre Kopien seien vernichtet worden, weil man sie nicht über 100 Jahre konservieren konnte: „Es gibt noch Hunderttausende von Filmrollen, bei denen man nicht weiß, was drauf ist.“ Bisher habe man nur einen Bruchteil digitalisiert und das Dilemma sei, dass man die alten Abspielgeräte häufig nicht mehr instand setzen könne.
Vor 25 Jahren, er war noch Musikstudent an der Berliner Hochschule der Künste sowie Mathematikstudent an der Technischen Universität Berlin, wurde er gefragt, ob er nicht im Kinoclub der Humboldt-Uni einen Stummfilm begleiten könnte. „Ich dachte, wie absurd ist das denn – das mache ich doch gleich.“ Er nahm sich einen Monat Zeit und stellte fest, dass es ihm einen Riesenspaß bereitete. „Ich wollte mal Filmkomponist werden“, sagt von Bothmer, „auch als Pianist wollte ich endlich Konzerte spielen, merkte aber, dass das alles nicht in ein Leben passte“. So hätten ihm die studentische Anfrage und der Aufführungserfolg ein Lebensproblem gelöst. „Ich war so mit mir im Einklang, dass ich an dem Tag meine letzte Zigarette geraucht habe“, sagt er. „Aber ich habe eine Sucht gegen eine andere getauscht!“
Livemusik findet Stephan Graf von Bothmer viel spannender als aufgenommene: „Die ist eingesperrt, wie ein gezähmtes Tier. Bei Live-Filmmusik sind die Reißzähne noch scharf und ungeschliffen.“ Auch zur Stummfilmzeit hätten die Pianisten improvisiert. Zeit zur Vorbereitung blieb bei den fast in einer Endlosschleife laufenden Filmvorführungen gar nicht. So ist es auch für ihn „eine sichere Bank“, zum 450. Mal Streifen von Stan Laurel und Oliver Hardy zu untermalen. Dennoch seien 80 Prozent seiner Konzerte filmische Einzelaufführungen, für einen 90-minütigen Film übe er ein paar Monate.
Dabei existierte für sein erstes Werk, „Das neue Babylon“ (1929), sogar eine bekannte Partitur – von einem 22-jährigen Dmitri Schostakowitsch. Es ist ein russischer Film über die Pariser Kommune von 1871, die dort als erste kommunistische Staatsform ausgelegt wird. „Schostakowitsch hat den Film kritisch gesehen und mit Dissonanzen unterlegt“, sagt von Bothmer. Doch er selbst fand die politische Ebene damals uninteressant und arbeitete vielmehr die tragische Liebesgeschichte heraus: Der junge Soldat Jean muss ein Grab für seine Pariser Geliebte Louise schaufeln, die als Aufständische von einem Standgericht zum Tod verurteilt wird.
Der Komponist sieht seine Aufgabe darin, erhellende Aspekte aus den alten Filmen herauszuholen. „Bei Stummfilmen fällt die Lösung am Ende oft vom Himmel, aber durch die Musik kann ich Zusammenhänge herstellen, die die Handlung für uns Spätgeborene verständlicher machen.“ Als Beispiel nennt er seine Musik zu einem Luther-Film von 1927. In der Original-Partitur erschallt ein glänzender As-Dur-Bläserakkord und als Titel erscheint „Luther – ein deutscher Volksheld“. In der neuen Vertonung wählt der Interpret jedoch einen etwas beklommen-introvertiert klingenden Akkord. „Bei mir ist Luther eine Figur mit vielen Selbstzweifeln, die Entscheidungen trifft und großartig wird.“
So ist von Bothmer der Meinung, dass nicht die Filme veralten, sondern die Musik: „Man könnte meinen, die Themen seien passé, die Schnittdramaturgie, die Erzählgeschwindigkeit, und es gibt keine richtigen Special Effects.“ Er habe jedoch schon feststellen können, wie selbst 150 digital sozialisierte Schulkinder in einer vollgepackten, heißen Mensa komplett auf den Film fixiert waren, zu dem er die Livemusik spielte. „Man hätte eine Stecknadel fallen hören können.“ Seine Kompositionen seien darauf ausgelegt, den Blick suggestiv zu lenken: „Mit der Musik steuere ich, in welche Ecke der Leinwand die Augen schauen.“
Ob Abenteuerfilm („Der Seeräuber“ mit Douglas Fairbanks), Thriller („The Lodger – Der Mieter“ von Alfred Hitchcock) oder Literaturverfilmung („Zur Chronik von Grieshuus“ nach Theodor Storm) – es gibt kein Format, für das Stephan Graf von Bothmer nicht passende, zeitgemäße Klänge findet. Er schlüpft analytisch in die Figuren hinein und macht hörbar, was nicht sichtbar ist.
Drama und Slapstick bei Fußball-Konzerten
Höchst unkonventionell sind die Fußball-Konzerte, die Stephan Graf von Bothmer erstmals vor über zehn Jahren auf der Orgel der Berliner Emmauskirche „kommentierte“. Die internationale Presse überschlug sich, denn der Musiker spielte zur Europameisterschaft in zwölf Ländern. Die „New York Times“ attestierte ihm „großes Drama, Slapstick-Komödie und die verschiedenen Abstufungen dazwischen“. Auf Youtube kann man nachsehen, wie viel Freude es nicht nur dem Publikum, sondern auch dem Ausnahmemusiker machte, dessen Frau und Kinder das Spektakel mit ihm auf der Empore erlebten. Auch in diesem Jahr möchte von Bothmer wieder Fußball-Konzerte in Angriff nehmen.
Während der Pandemie wurde es schwierig für den Musiker, der von den Live-Konzerten lebt. „Ich wollte etwas lernen und habe mit anderen Kreativen Livestreams entwickelt und auf Spendenbasis ausgestrahlt.“ Dafür mussten sie durchaus in finanzielle Vorleistung gehen, denn auf den Filmen waren Rechte fürs Streaming abzugelten sowie technische Kosten zu tragen.
Trotz eines Vierteljahrhunderts erfolgreicher Stummfilm-Konzerte erfindet sich Stephan Graf von Bothmer immer wieder neu. „Alles ist viel kurzfristiger geworden“, so sein Resümee der Buchungssituation. Den ganzen Herbst über hat er jedes Wochenende Konzerte gespielt, war auf Tournee in den Niederlanden und repräsentierte deutsches Kulturgut in Malaysia. Seine Kunst hat schon auf fünf Kontinenten ein breites Publikum aller Altersklassen begeistert.