Das Scharoun Ensemble der Berliner Philharmoniker gehört zu den angesehensten Kammermusikgruppen Deutschlands – und hat jetzt sein 40-jähriges Bestehen gefeiert.
Seine Entstehung verdankt das Ensemble einem berühmten Musikstück: Franz Schuberts Oktett für Klarinette, Horn, Fagott, Streichquartett und Kontrabass. Um dieses Werk aufzuführen, taten sich 1983 acht junge Mitglieder der Berliner Philharmoniker zusammen. Darunter der damals 27-jährige Kontrabassist Peter Riegelbauer, der amerikanische Hornist Stefan de Leval Jezierski und die Geigerin Madeleine Carruzzo, die erste Frau in den Reihen der Berliner Philharmoniker.
Die jungen Musiker waren zwar begeistert davon, unter dem charismatischen Herbert von Karajan großformatige Sinfonien zu spielen – dennoch vermissten sie die kleinere Besetzung. Wochenlang vertieften sie sich in die Schubert-Noten, suchten nach einem gemeinsamen Klang, stritten leidenschaftlich über Details. Denn das war ihnen von Anfang an wichtig: dass nicht ein Einzelner sagt, wo es lang geht, sondern dass gemeinsam entschieden wird.
Tradition und Innovation
Seither gestaltet das Scharoun Ensemble eine regelmäßige Konzertreihe im Kammermusiksaal der Philharmonie; hinzu kommen auswärtige Gastspiele. Schuberts Oktett steht bis heute oft auf dem Programm; im Laufe der Zeit haben es die Musiker rund zweihundert Mal aufgeführt.
Der Einfall, das neue Ensemble nach dem Architekten Hans Scharoun zu benennen, erwies sich als Glückstreffer. Der Name klingt prägnant und stellt zugleich eine Verbindung zum Stammhaus der Musiker her: der von Hans Scharoun entworfenen Berliner Philharmonie. Die Verbindung von Eleganz und zeitloser Moderne, die der 1963 eröffnete Konzertsaal bis heute ausstrahlt, inspiriert auch das Scharoun Ensemble. In dem im Laufe der Jahrzehnte eine ganze Reihe von Musikern mitwirkten. Zwei der Gründungsmitglieder sind heute noch dabei: der Kontrabassist Peter Riegelbauer und der Hornist Stefan de Leval Jezierski. „Wir sind insgesamt neun Musiker. Diese Basis hat sich bewährt, um ein vielfältiges Repertoire abzudecken. Nicht zu klein und nicht zu groß“, so Riegelbauer. Das bedeutet aber nicht, dass stets alle Neun am Start sind. Die Musiker kommen auch als Trio, Quartett oder Septett zusammen.
Kammermusik stellt andere Herausforderungen als das Spiel im großen Orchester. Stets aufs Neue muss die ideale Balance zwischen Streichern und Bläsern austariert werden. Mal sollen die Instrumente homogen verschmelzen, dann wieder im durchsichtigen Klangbild ihre eigenen Charaktere bewahren. Doch die Auseinandersetzung darüber ist für jeden der Musiker eine Bereicherung.
Bei Bedarf werden weitere Kollegen oder ein Dirigent hinzu gebeten. Das Scharoun Ensemble musizierte unter namhaften Maestri wie Claudio Abbado, Simon Rattle oder Daniel Barenboim. Für spartenübergreifende Programme engagierte es Künstler wie Loriot oder Dominique Horwitz. Etliche CDs sind entstanden; natürlich auch eine mit dem Schubert-Oktett.
Den Ansatz des Architekten Hans Scharoun, neue Wege zwischen Tradition und Innovation zu beschreiten, greift das Scharoun Ensemble mit seiner Programmgestaltung auf. Kontrastreich kombiniert es in seinen Aufführungen verschiedene Stile und Epochen. Klassische und romantische Werke stehen neben zeitgenössischem Repertoire.
Damit stellt sich das Scharoun Ensemble gegen den Trend zur Spezialisierung in einem Musikleben, wo Allrounder selten geworden sind. „Wir haben eine andere Herangehensweise als Spezialensembles, die ausschließlich zeitgenössische Musik spielen“, erklärt Kontrabassist Riegelbauer. „Wir bringen auch in die Neue Musik die Klangqualität und Ausdrucksstärke der Klassik und Romantik ein.“
Von einer „der besten und interessantesten Kammermusikformationen“ spricht der Schweizer Komponist David Philip Hefti, der dem Scharoun Ensemble zum 40. Geburtstag ein Jubiläumsstück auf den Leib komponiert hat. „Die Musiker beseelen Werke aus den verschiedenen Epochen durch intensive, ja atemberaubende Interpretationen“, lobt er. „Die starken und sehr individuellen Musikerpersönlichkeiten verschmelzen dabei zu einer sublimen Einheit.“
Ein Fixpunkt im Kalender ist der jährliche Aufenthalt im schweizerischen Zermatt, wo das Scharoun Ensemble seit 2005 eine eigene Akademie leitet.
Viele Auftragswerke uraufgeführt
Besonders ist schon die Anreise in das autofreie Bergdorf. Ein Bähnli schiebt sich das immer schmaler werdende Mattertal hinauf bis auf 1.600 Meter Höhe. Mal rauscht ein Bach neben dem Bahndamm; dann wieder rücken steile Felswände zum Greifen nah. Schließlich taucht hinter einer Kurve das Matterhorn auf. Unter dem spitzen Gipfel des Viertausenders breiten sich Almen aus, auf denen verwitterte Holzhütten stehen und Kühe ihre Halsglocken tönen lassen. Im Winter sausen hier die Skifahrer; im Sommer wird gewandert. Den September, eigentlich Nebensaison, bereichert das Scharoun Ensemble mit dem Zermatt Music Festival.
Vor mehr als zwei Jahrzehnten gastierten die Scharoun-Mitglieder erstmals in der Kapelle auf der Riffelalp, oberhalb von Zermatt; auf 2.220 Höhenmetern und hart an der Baumgrenze gelegen. Hier wurde ihnen klar: Sie hatten ihr Paradies gefunden. Schon lange wollten sie eine Akademie gründen, um zu musizieren und ihre Erfahrungen an den Nachwuchs weiterzugeben.
Alljährlich studieren die Scharoun-Mitglieder nun mit rund 30 Akademisten Kammerkonzerte ein und vereinen sich zum Festival-Orchester. Die Profis geben die Stimmführer; der Nachwuchs sitzt an den hinteren Pulten. „Als wir die Akademie gründeten, hätten wir uns dieses Niveau nie träumen lassen“, stellt Kontrabassist Peter Riegelbauer fest.
Proben und Konzerte finden in den Kirchen oder Konferenzsälen der Hotels statt. Größter Veranstaltungsort ist die Pfarrkirche, die zwischen Souvenir-Shops und Raclette-Restaurants mitten im touristischen Gewimmel steht. Bei den Konzerten geht es locker zu. Viele Besucher kommen in Wanderschuhen und Outdoor-Jacken.
Im heimischen Berlin wiederum bleibt der Kammermusiksaal der Philharmonie der wichtigste Auftrittsort für das Scharoun Ensemble. Im Laufe der Jahrzehnte haben die Musiker hier zahlreiche Auftragswerke uraufgeführt; von renommierten Komponisten wie György Ligeti, Hans Werner Henze oder Pierre Boulez. Peter Riegelbauer spricht von einer „großen Entdeckerlust“, die die Musiker immer wieder packe. „Im direkten Dialog mit den Schöpfern erschließen sich die Werke viel besser. Was da bei den Proben erklärt wurde, vergisst man nie wieder.“
Zum 40-jährigen Bestehen hat der Schweizer Komponist David Philip Hefti dem Scharoun Ensemble sein neues Oktett gewidmet. Es heißt „Des Zaubers Spuren“ und bezieht sich auf jenes berühmte Schubert-Oktett, das einst eine zentrale Rolle bei der Ensemble-Gründung spielte. „Die Homogenität des Scharoun Ensembles und die individuelle Klasse der einzelnen Musiker haben mich bei der Arbeit an meinem Oktett außerordentlich beflügelt“, so der Komponist. Die Uraufführung von „Des Zaubers Spuren“ fand Mitte September beim Zermatt Music Festival statt, zur deutschen Erstaufführung kam es etwas später beim Jubiläumskonzert in der Berliner Philharmonie.
„Die Musik ist eine Hommage an Franz Schubert, dessen Tiefgründigkeit mich bei aller Transparenz und Klarheit direkt berührt“, erklärt Komponist Hefti. „Ich habe nicht nur dieselbe Besetzung wie Schubert für sein berühmtes Oktett gewählt, sondern meine Musik auch an sein Meisterwerk angelehnt.“