Der für seine visionären Bach-Interpretationen gefeierte Pianist Víkingur Ólafsson aus Reykjavik hat die berühmten „Goldberg-Variationen“ eingespielt. In diesem Jahr wurde er mit dem Opus Klassik 2023 ausgezeichnet. Via Zoom spricht er über die Schönheit von Bachs Musik und den Preis des Erfolges.
Herr Ólafsson, Sie haben 25 Jahre lang davon geträumt, die Goldberg-Variationen einzuspielen. Warum scheint Ihnen jetzt der Moment gekommen für dieses monumentale Werk?
Für Repertoireentscheidungen, sei es für eine Aufnahme oder eine Konzerttournee oder auch beides, nehme ich mir viel Zeit, manchmal Monate; ich horche dann auf meine innere Stimme. Ohne Bach komme ich nicht länger als ein paar Tage aus, ich muss ihn einfach ständig spielen; durch ihn entwickle ich neue Ideen und überdenke, wie ich Klavier spiele. Die Goldberg-Variationen wären fast mein Deutsche-Grammophon-Debüt geworden, aber dann ging die Entscheidung in eine ganz andere Richtung und das Ergebnis war 2017 mein Philip-Glass-Album. Ein Bach-Album stand für mich als Nächstes an, allerdings wurde mir klar, dass seine Goldberg-Variationen noch warten können, ich wollte mich erst auf andere Aspekte von Bach konzentrieren: Bach als Meistererzähler von Kurzgeschichten – weg von den monumentalen Werken.
Was macht dieses Werk so schwierig?
Die Goldberg-Variationen sind wie eine Enzyklopädie: Wie denkt und träumt man auf dem Klavier? Alle 30 Variationen adressieren die Zukunft. Als sie geschrieben wurden, waren sie für die meisten Musiker beinahe unspielbar. Tiefe und Umfang des Werks lassen dem Interpreten geradezu eine unendliche Vielzahl an Möglichkeiten. Oft spielt man es bei einem Auftritt so und schon beim nächsten ganz anders. Das gesamte Stück 88-mal zu spielen ist fast wie ein konzeptionelles Kunstwerk. Ich glaube nicht, dass ich mich bei auch nur einer Aufführung langweilen werde. Wenn sich der Interpret bei den Goldberg-Variationen langweilt, ist er derjenige, der das Problem hat, er sollte es nicht aufs Stück schieben. Dann fehlt ihm selbst etwas oder seinem eigenen kreativen Prozess als Bach-Musiker.
Macht man mit den Goldberg-Variationen eine Zeitreise ins Barock? Oder wollten Sie das Werk ins Hier und Jetzt übersetzen?
Bach gehört immer ins Hier und Jetzt. Seine Musik spiegelt die Moderne und uns heute. Auch deshalb ist er so faszinierend für jede neue Generation von Musikern und Musikerinnen – ob aus der Klassik oder anderen Genres. Auf meinem letzten Bach-Album waren Transkriptionen von Busoni, Rachmaninow, Alexander Siloti, Wilhelm Kempff und mir selbst. Die meisten Werke waren noch original Bach, allerdings stellt sich die Frage: Was heißt original eigentlich? Wenn man Bachs Musik spielt, muss alles aus der eigenen persönlichen Geschichte, dem eigenen Wissen mitspielen. Mit dem Konzept der historischen Aufführungspraxis habe ich meine Schwierigkeiten. Wann endet Bachs Geschichte? Am Tag, als er starb? Mir erscheint es sinnvoller, alles aufzugreifen, auch die Kenntnis von der Aufführungsgeschichte im Zeitalter der Aufnahmetechnik. Das Schöne an Bach ist, dass er die Gegenwart zu reflektieren scheint in schrankenlosem Wissen der Vergangenheit.
Haben Sie sich auch mit Bachs Persönlichkeit beschäftigt?
Wir wissen nur wenig über ihn. Seine Briefe geben nicht viel preis. Manchmal klagt er über die Arbeitslast oder das Geld, mehr nicht. Es ist nicht wie bei Mozart oder Beethoven, wo man durch die Briefe ein Gefühl für den Menschen bekommt. Bach bleibt ein Rätsel. Ich denke viel über sein Leben nach, wie er die Goldberg-Variationen schrieb, das bedeutendste Werk der Klavierliteratur schlechthin. 1741 war sein Lebensabend angebrochen, er hatte 20 Kinder gezeugt, zehn oder elf von ihnen waren gestorben. In gewisser Weise wurde sein Leben zu einer Tragödie.
Warum?
Er war aus der Mode gekommen und wurde als Komponist nicht länger für sonderlich bedeutend gehalten. Seine Söhne wurden weit berühmter als er selbst zu Lebzeiten. Ein neuer klassischer Stil eroberte die tonangebende Gesellschaft, während Bach noch Kanons und Fugen schrieb, wofür die jungen Komponisten sich nicht interessierten. Es ist kaum zu glauben, dass er in solch einer Atmosphäre etwas wie die Goldberg-Variationen schuf, denn es gab keinerlei Garantie, dass jemand in Zukunft seinem Stück oder seinem Namen Beachtung schenken würde.
Bach hätte also durchaus in Vergessenheit geraten können?
Er hätte ohne Weiteres in Vergessenheit geraten können und mit ihm die Goldberg-Variationen. Man war noch gar nicht darauf gekommen, Musik der Vergangenheit auf die Bühne zu bringen, Zeitgenössisches wurde musiziert. Wenn ich die Goldberg-Variationen spiele, gehen mir die vielen Pflichten von Bach durch den Kopf: Cembalo und Violine unterrichten, Chöre dirigieren, sogar Latein lehren, unter Zeitdruck all diese unglaublichen Werke schreiben, persönliche Schicksalsschläge bewältigen … Je häufiger ich die Goldberg-Variationen im Konzert spiele, desto deutlicher begreife ich sie als Zyklus eines Lebens. Für mich gibt es in der Musik nichts, was diesem Werk vergleichbar wäre.
Haben Sie sich in Ihrer Vorbereitung einige Einspielungen von großen Pianisten der Vergangenheit angehört?
Ich habe keinerlei Scheu, die Interpretation von anderen zu hören und mich inspirieren zu lassen, denn ich vertraue durchaus auf meine Auffassung von Bach. Zu hören, wie andere Bach interpretieren, ist immer interessant und nicht selten legt es etwas offen; es zeigt sich, wie der Interpret Musik im Kern begreift und erlebt. Glenn Goulds Live-Aufnahme aus Salzburg von 1959 zählt zu meinen Favoriten, etwas faszinierend Menschliches und eine große Freiheit kommen darin zum Ausdruck. Ich liebe auch die frühe Aufnahme von Wanda Landowska am Cembalo, das eher wie eine Orgel klingt, oder die majestätische Einspielung von Murray Perahia; die ist etwa 20 Jahre alt. Und natürlich sind auch die beiden anderen Gould-Aufnahmen aus den Jahren 1955 und 1981 unglaublich faszinierend. Im Grunde ist die Einspielung von 1955 in der klassischen Musik das erste Meisterwerk aus dem Aufnahmestudio, es schöpft das ganze Potenzial des Aufnahmestudios als Ort musikalischer Experimente und kreativer Freiheit aus.
Wollte Bach mit dem Stück nur unterhalten oder ging es ihm um mehr?
Das Stück gleicht allen großen Kunstwerken: Es ist nicht nur das eine – es ist alles. Selbstverständlich sind die Goldberg-Variationen unterhaltsam, aber sie sind auch eine Ode an das Leben, an die Musik und an das Klavier. Spielt man Musik von späteren Komponisten wie Schumann, hat man das Gefühl, dass sie voll der Goldberg-Variationen ist. Oder der Jazz, er ist oft voller Bach. Auch Mozart hat sich von ihm inspirieren lassen, um etwas Eigenes zu schaffen.
Wohnen Sie eigentlich noch in Berlin?
Nein, ich lebe jetzt wieder in Island. Ein Leben in zwei Ländern wurde zu schwierig wegen der Pandemie. Meine Frau und ich haben zwei Kinder, und zwei Haushalte waren schlicht zu kompliziert. Aber Berlin bleibt in gewisser Weise ein Zuhause, nur jetzt ohne eigene Wohnung.
Sie sind 2023 Preisträger des Opus Klassik in der Kategorie „Instrumentalist des Jahres“. Erfolg, Applaus und Preise – sind Sie durchweg positiv oder hat das Arbeiten auf so hohem Niveau auch eine Kehrseite?
Man muss wirklich extrem viel arbeiten und sich mit Haut und Haaren der Sache verschreiben. Hätte ich einen Wunsch frei, würde ich mir mehr Zeit für meine Söhne und meine Frau wünschen. Die größten Opfer der Kunst bringen oft die Menschen im Umfeld des Künstlers. Aber es scheint mir nicht richtig, so eine Perspektive einzunehmen. Mein Leben ist ein solches Privileg, so unglaublich selten und schön, ich kann buchstäblich in jedem großen Konzertsaal der Welt die Goldberg-Variationen spielen. Mein Traum wurde wahr.