Deutschland ist ab 2020 Mitglied im UN-Menschenrechtsrat. Er wacht weltweit über deren Einhaltung und hat 47 Mitgliedsländer, die von der UN-Vollversammlung jeweils für drei Jahre gewählt werden. Über die Lage der Menschenrechte sprach FORUM mit Julia Duchrow von Amnesty International.
Frau Duchrow, Menschenrechte werden überall verletzt. Wo setzen Sie Ihre Schwerpunkte?
Wir arbeiten weltweit, aber natürlich können wir nicht zu allen Ländern gleichzeitig arbeiten, also überlegen wir uns schon regionale Schwerpunkte. Auf jedem Kontinent gibt es Regionalbüros und Aktivisten von uns. Die Themen sind oft die gleichen, unter anderem Folter, Todesstrafe, willkürliche Inhaftierung und Flüchtlingsschutz. Aber wir setzen natürlich je nach Land unterschiedliche Schwerpunkte. Jetzt planen wir gerade für die nächsten fünf Jahre.
Was ist dabei besonders wichtig?
Im Moment beschäftigt uns stark die Erosion von Menschenrechtsstandards und der Gremien, die sie durchsetzen sollen. Sie werden in Misskredit gebracht und von den Populisten infrage gestellt. Da geht es um den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, aber auch um den UN-Menschenrechtsrat, der auch noch finanziell unter Druck geraten ist, weil die USA sich zurückgezogen haben. Und wir beobachten einen dramatischen Druck auf die Handlungsräume der Zivilgesellschaft: Diffamierungen, Polizeieinsatz, Verfolgung und einschränkende Gesetze.
Was macht die deutsche Sektion?
Wir kümmern uns derzeit vermehrt um den Schutz von Flüchtlingen. In diesem Zusammenhang fordern wir einen Zugang zu einem fairen Asylverfahren in Europa, ohne dass man sein Leben gefährden muss. Und wir wollen, dass Menschen vor Abschiebungen in Staaten geschützt sind, in denen Menschenrechte verletzt werden. Anders als dies beispielsweise mit Afghanistan der Fall ist.
Hilft es, wenn Staatsfrauen oder -männer bei ihren Besuchen „die Lage der Menschenrechte" ansprechen?
Ja, das hilft schon, denn gerade Länder wie Saudi-Arabien oder China haben ein großes Interesse daran, nach außen ein gutes Bild abzugeben. Besonders China, wenn es auf den wachsenden Wohlstand oder die Klimaziele verweist. Wenn dann die Menschenrechte angesprochen werden, dann ist das der jeweiligen Regierung schon unangenehm und hat Wirkung – und zwar besonders, wenn es um konkrete Fälle geht. Das kontinuierliche und wiederholte Ansprechen menschenrechtlicher Probleme hat eine enorme Wirkung – das ist unsere Beobachtung. Aber natürlich sollten die Regierungschefs den Druck auch jenseits der mündlichen Ansprache erhöhen und die wirtschaftliche oder sicherheitspolitische Zusammenarbeit oder Rüstungsexportstopps ins Spiel bringen.
Arbeiten Sie mit dem Auswärtigen Amt zusammen?
Wir sind eine unabhängige Institution, also auch regierungsunabhängig. Wir bekommen keine Staatsgelder. Man kann nicht wirklich von einer Zusammenarbeit sprechen. Aber wir sind sehr interessiert an einem konstruktiven kritischen Dialog. Wir haben regelmäßig Gespräche mit dem Auswärtigen Amt, bei denen wir unsere Anliegen vorbringen und auch über konkrete Fälle sprechen.
Und dafür ist man im Auswärtigen Amt offen?
Ja, da schon. Aber das gilt leider nicht für alle Ministerien, zu denen wir Kontakt haben. Bei den Anhörungen zu den neuen Flüchtlingsregelungen waren wir auch dabei – und da haben wir erlebt, dass im Laufe der Zeit doch sehr viele Beschränkungen im Umgang mit Flüchtlingen eingeführt wurden. Und wir mussten feststellen, dass die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft stark verringert wurden, sich einzubringen.
Deutschland ist demnächst Mitglied im UN-Menschenrechtsrat. Aber was ist das für ein Gremium, in dem auch der Sudan oder Jemen Mitglieder sind? Ist das nicht eher ein Feigenblatt?
Wir finden die UN-Institutionen dennoch sehr wichtig, auch wenn sie in verschiedener Hinsicht reformbedürftig sind. Schließlich wurden die Vereinten Nationen nach dem Grauen des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Ermordung von Millionen Menschen durch totalitaristische Systeme gegründet. Sie haben damals die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet, die zu unserer Gründungscharta wurde. Wir sollten uns hüten, die UN und ihre Gremien niederzuschreiben, nach dem Motto: Bringt doch alles nichts.
Haben Sie direkten Kontakt zur UN?
Wir sind beispielsweise im Austausch mit UN-Menschenrechtsberichterstattern zu verschiedenen Themen. Für die Zivilgesellschaft in vielen Regionen der Welt ist die UN der einzige Ort, an dem sie Menschenrechtsverletzungen in ihrem Land in einem offiziellen Rahmen, vor der internationalen Öffentlichkeit und anderen Staaten offenlegen können. Wir als NGO nutzen wie andere dabei auch die Möglichkeiten, sich hier einzubringen und zu helfen.
Sprechen wir Europa an. In Rumänien oder Ungarn sind ja besonders die Roma von Menschenrechtsverletzungen betroffen und die Freiheitsrechte akut bedroht.
Wir haben eine ungarische Amnesty-Sektion, die sehr aktiv ist. Die ist vernetzt mit anderen NGOs vor Ort. Menschenrechtsverletzungen innerhalb der EU anzuprangern hat eine enorme Signalwirkung für die Glaubwürdigkeit weltweit. Wenn sich selbst die EU Menschenrechtsverletzungen vorwerfen lassen muss, wird es schwierig. Insofern fordern wir schon lange, dass die Bundesregierung mehr Druck ausübt. Wenn man bedenkt, dass in Ungarn schon Personen, die Flüchtlingen durch Rechtsberatung unterstützen, Strafverfahren und bis zu einem Jahr Haft drohen … Wir prangern das schon regelmäßig an, die Angriffe auf die Unabhängigkeit der Justiz, die Verletzung der Meinungsfreiheit, die Verfolgung von Minderheiten. Da muss die EU konsequenter Stellung beziehen.
Aber Sie können diese Zustände nicht abstellen …
Nein, das können wir nicht. Aber wir können ein Bewusstsein schaffen darüber, wo überall Menschenrechte verletzt werden – das ist für uns schon ganz wichtig. Tatsächlich müssen diese Rechte immer wieder erkämpft werden. Und ich denke, wir bekommen immer wieder Verbesserungen hin. Ein Erfolg für die Menschenrechte ist auch der Friedensnobelpreis für den äthiopischen Ministerpräsidenten Abiy Ahmed.
Worauf sind Sie stolz bei der Arbeit von Amnesty?
Vorausschicken möchte ich, dass wir mit Menschen an der Basis zusammenarbeiten, die sich engagieren und kämpfen. Deswegen wäre es nicht richtig, die Erfolge nur auf uns zu beziehen. Eine Sache, die mich immer wieder beschäftigt und auch gerührt hat, ist der Fall des ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov der aufgrund des politischen Drucks von verschiedenen Organisationen freigekommen ist. Aber vor allen Dingen hat Oleg Sentsov direkt nach seiner Freilassung geschrieben, wie viel Hoffnung ihm die Massen an Briefen gemacht haben, die er von Amnesty-Mitgliedern weltweit erhielt. Er hatte das Gefühl: Ich bin hier nicht alleine, die anderen wissen von mir.
Ist der Einfluss von Amnesty international in den vergangenen 20 Jahren gewachsen?
Wir sind bekannter geworden, der politische Einfluss ist größer. Einer der Höhepunkte war natürlich die Vergabe des Friedensnobelpreises 1977. Unsere Erfolge hängen auch mit der politischen Entwicklung zusammen – so gab es nach dem Fall der Mauer in den 90er-Jahren eine Öffnung in allen osteuropäischen Staaten, da hat sich die Lage der Menschenrechte dramatisch verbessert. Nach den Anschlägen am 11. September ging es aber wieder zurück: massive Antiterrorgesetze wurden erlassen, das Folterverbot infrage gestellt. Im Moment erleben wir – wie gesagt – eine Erosion der Menschenrechtsstandards, der Gremien, die sie umsetzen sollten und des Handlungsraums der Zivilgesellschaft – und das ist schon bedrohlich.