Leon Goretzka hebt sich von den meisten Profifußballern deutlich ab, weil er in der Öffentlichkeit klar Stellung zu gesellschaftlich relevanten Themen bezieht. Auch bei Gegenwind knickt er nicht ein.
Was für ein außergewöhnlicher Fußballprofi Leon Goretzka ist, beweist der Nationalspieler auch in Zeiten der Corona-Pandemie. „Samstag, 15.30 Uhr. Zu einer Uhrzeit, an der wir eigentlich um Tore, Punkte und Meisterschaften kämpfen, kämpfen Mediziner für unsere Gesundheit", twitterte Goretzka am 14. März, an dem er mit dem FC Bayern München eigentlich bei Aufsteiger Union Berlin hätte antreten sollen. Doch statt Frust wegen der Absage zu schieben, lenkt Goretzka den Fokus auf das, was in diesen Tagen wirklich wichtig ist. Und das ist aus seiner Sicht nicht das Milliardengeschäft Fußball. „Lasst uns als Gesellschaft zusammenstehen und denen helfen, die Hilfe benötigen", schrieb der 25-Jährige und appellierte an die Vernunft und Verantwortung eines jeden Einzelnen: „Nehmt die offiziellen!! Infos der Städte ernst."
Es ist nicht das erste Mal, dass der Mittelfeldspieler seine Prominenz nutzt, um auf gesellschaftsrelevante Themen hinzuweisen und seine klare Meinung zu äußern. Und die wird von vielen gehört. Auf Instagram folgen Goretzka 977.000 Fans, auf Facebook 200.000, auf Twitter 45.000. Sie alle tun dies nicht nur, weil er ein hochtalentierter Fußballer ist, der bei einem der beliebtesten Clubs der Welt angestellt ist. Viele Fans schätzen an Goretzka auch, dass er – anders als viele seiner Kollegen – bei Themen wie Rassismus, Ausgrenzung und Unterdrückung klar Stellung bezieht. „Ich bin mit Sicherheit kein Aktivist, aber ich habe einen Standpunkt zu aktuellen gesellschaftlichen Themen", sagt er. Er bekomme mehr und mehr das Gefühl, „dass sich die Gesellschaft darüber freut, wenn sich Leute aus dem öffentlichen Leben positionieren und dabei authentisch sind." Er müsse sich nicht verstellen, denn er schaue gern über den Tellerrand seines Profi-Daseins hinaus. „Die Gesellschaft – und gerade auch die jüngere Generation – wird politischer", sagte der gebürtige Bochumer der Funke-Mediengruppe. „Wenn ich als Sportler so viel Gehör finde, kann ich das ja auch anders nutzen, als nur zu zeigen, was für ein tolles Auto ich fahre."
Bei einer Umfrage des Meinungsforschungs-Unternehmens SLC im Auftrag des FORUM-Magazins unter 5.000 Fußballfans der Bundesliga beantworten 90,7 Prozent die Frage, ob sie Meinungsäußerungen bei Missständen von Spielern gut finden, mit „Ja". Annähernd genauso viele (89,4) Fans würden sich wünschen, dass sich noch mehr prominente Profis bei sozialen Brennpunkt-Themen einbringen würden. Auch Andreas Rettig, der ehemalige Geschäftsführer der Deutschen Fußball Liga (DFL), fordert von den Profifußballern mehr soziales Engagement – vor allem in der Corona-Krise: „Jetzt haben auch die Spieler mal eine Chance, sich nicht nur über goldene Steaks zu definieren."
Screenshot mit Hass-Nachrichten und Bedrohungen
Hinter vorgehaltener Hand deuten die Berater an, dass sich viele Profis dem so genannten Shitstorm im Internet nicht aussetzen wollen. Auch Goretzka weiß, „dass man mit einer klaren Haltung polarisiert und gerade in den sozialen Netzwerken Gefahr läuft, extremen Gegenwind zu bekommen". Im „Spiegel"-Interview verriet er, was er dann oft lesen muss: „Da kommen dann Aussagen wie: Du bist kein Politiker! Spiel gefälligst nur Fußball."
Aber all das schreckt Goretzka nicht ab – im Gegenteil. Im November veröffentlichte er einen Screenshot mit Hass-Nachrichten und üblen Bedrohungen. Dazu schrieb er mit ironischem Unterton: „Sonntags erledige ich immer wieder gerne die Fanpost, die die ganze Woche liegen geblieben ist." Wer als prominente Person Stellung bezieht, müsse mit Gegenwind rechnen, diesem aber auch standhalten, so Goretzka. Er wolle jedem Mut zusprechen, seine Stimme zu erheben, denn wenn man „mögliche Anfeindungen richtig einzuordnen weiß, kann man sehr gut damit umgehen." Trotzdem könne er Kollegen auch verstehen, die zwar eine ähnliche Meinung wie er vertreten, diese aber lieber nur im Familien- und Freundeskreis teilen würden. Er wisse sehr genau, so Goretzka, „was manchmal daraus gemacht wird von Medien und allen, die in diesem Karussell mitfahren."
Ihm persönlich hat es aber nicht geschadet, auch in der Öffentlichkeit klar und offen seine Meinung kundzutun. Auch unter den Kollegen ist sein Standing dadurch enorm gestiegen. Der dunkelhäutige Verteidiger Manuel Akanji von München-Rivale Borussia Dortmund findet es zum Beispiel „richtig stark", wenn sich Spieler beim Thema Rassismus so positionieren wie Goretzka.
Auch unter Kollegen ist sein Standing enorm gestiegen
In der Tat ist diesem das Thema sehr wichtig. Mitte Februar besuchte er die KZ-Gedenkstätte in Dachau, er postete auf seinen sozialen Netzwerkseiten Bilder, unter anderem von Fritz Koelles Denkmal „Der unbekannte Häftling". Seinen Beitrag versah er mit den Hashtags #NieWieder und #NeverForget. Im Alter von 13 Jahren hatte Goretzka das einstige Konzentrationslager zum ersten Mal besucht, „in dem Moment habe ich angefangen zu weinen, weil mich alles überkommen hat", sagte er bei Spox rückblickend. „Auf einmal war alles real. Ich habe Bilder an den Wänden gesehen und bin dann in den Hof gelaufen, wo ich gewisse Orte von den Bildern wiedererkannt habe."
Solche Besuche sollten für alle Schüler „Pflichtveranstaltungen" sein, fordert Goretzka. Gerade in der heutigen Zeit, wo rechtsradikale Tendenzen zunehmen und eine Partei wie die AfD mit ihrer ausländerfeindlichen Politik immer mehr Zulauf erfährt. Auch hier nimmt Goretzka kein Blatt vor den Mund. Wegen der Wahlerfolge der AfD „fasst man sich den Kopf und fragt sich, wie das passieren kann", so Goretzka. Er glaube, „dass viele Leute in Deutschland Angst vor der Zukunft haben und sich abgehängt fühlen". Für diese Leute sei es „oft die Lösung, das Problem in anderen Bereichen wie beispielsweise der Migration zu sehen".
Diesem Reflex tritt Goretzka mit aller Macht entgegen, für ihn selbst ist das unbegreiflich. „Auf meiner Schule lag der Ausländeranteil bei 80 Prozent, aber das war nie ein Thema – und das war gut so", sagt Goretzka. Als beim Länderspiel in Wolfsburg gegen Serbien die dunkelhäutigen Nationalspieler Leroy Sané und Serge Gnabry von einigen wenigen Fans rassistisch beleidigt wurden, ergriff Goretzka die Initiative. „Ich bin ein Kind des Ruhrgebiets", sagte er auf der Pressekonferenz am Tag nach dem Vorfall, „da antwortet man auf die Frage nach der Nationalität mit Schalke, Dortmund oder Bochum." Dieser Satz wurde von der Akademie für Fußballkultur zum „Fußballspruch des Jahres" 2019 nominiert, bei der finalen Wahl landete Goretzka auf Platz zwei. Es gewann Imke Wübbenhorst, die als Trainerin einer Männermannschaft scherzhaft sagte: „Ich bin Profi. Ich stelle nach Schwanzlänge auf." Und Goretzka? Er gratulierte der Siegerin von Herzen: „Sie hat ein wichtiges Thema angesprochen. Eines, das im Fußball vielleicht noch mehr Aufmerksamkeit verdient hat." Goretzka setzt sich auch für die Gleichberechtigung der Frauen ein, auch die „Fridays for Future"-Bewegung liegt ihm am Herzen.
Und auch wenn sich nicht viele seiner Kollegen explizit dazu öffentlich äußern – eine reine Blase, in der die Profis von den Problemen der Gesellschaft nichts mehr mitbekommen, sei das Fußballgeschäft nicht. „Wenn ich mit Mitspielern wie Joshua Kimmich, Serge Gnabry, Niklas Süle, Manuel Neuer oder Thomas Müller essen oder einen Kaffee trinken gehe", verrät Goretzka, „stehen diese Themen auch auf der Agenda." Der Bayern-Spieler gibt aber auch zu, dass im Tagesgeschäft die Ablenkung zu groß sei. „Die Kabine", sagt er „ist für so etwas der völlig falsche Ort, da geht es nur um unseren fußballerischen Alltag." Wenn er das Trainingsgelände an der Säbener Straße verlässt, will Goretzka aber seinen Horizont durch andere Dinge erweitern. Trifft er sich mit Freunden, steht der Fußball mal nicht an erster Stelle. Dann werde öfters „über Politiktalks vom Vorabend" diskutiert. Für Goretzka eine willkommene Abwechslung.
„Meine Freunde sagen, ich wäre dann Anwalt geworden"
Sein Weg als Profifußballer war früh vorgezeichnet. Ex-Trainer Peter Neururer bezeichnete den damals 18-Jährigen bei seinem Wechsel vom VfL Bochum zu Schalke 04 als „Jahrhunderttalent". Schnell stieg Goretzka zum Stammspieler in der Bundesliga auf, spätestens seit dem Gewinn des Confed Cups 2017 in Russland ist der komplette Fußballer auch aus der Nationalmannschaft nicht mehr wegzudenken.
Auch ohne die große Profikarriere würde sich Goretzka heute wohl für die Schwächeren einsetzen. „Meine Freunde sagen immer, ich wäre dann Anwalt geworden", sagt er. Man kann es sich gut vorstellen.