Ob Autobauer oder Einzelhandel: Für alle werden gigantische Rettungspakete geschnürt. Der Bereich Erotik und Sex geht dagegen leer aus. „Keine staatlichen Hilfen für Zuhälter“ ist die Parole bei den bürgerlichen Parteien. Das trifft vor allem die finanziell Schwachen.

Eine junge Frau sitzt auf einer Parkbank an der Genthiner Straße im Berliner Tiergartenviertel und raucht. Verwaschene Blue Jeans, rote Sneakers, unter der Jacke nur ein enges Trägershirt. Die Frau wirkt nicht gerade glücklich und scheint sehnsüchtig auf jemanden zu warten. Ihr Blick schweift immer prüfend umher. Doch es ist nicht ihr Freund, der sich verspätet hat, sondern ihre Kundschaft, die sich wegen der Corona-Verfügungen nicht mehr aus der Wohnung traut.
Octaviana ist eine der vielen Sexarbeiterinnen, die im Corona-Chaos sprichwörtlich auf der Strecke geblieben sind. Nach Hause kommt sie momentan nicht: Die Grenzen sind dicht, und sie ist ohnehin pleite. Sie hat ein kleines Zimmer in einem Apartmenthaus in der Kurfürstenstraße gemietet, die Miete wird wöchentlich gezahlt. Und ihr Vermieter will weiterhin die volle Summe – 400 Euro, jede Woche. Corona hin oder her. Doch Octaviana kann derzeit nicht wirklich arbeiten, jedenfalls nicht legal. Prostitution ist seit Mitte März verboten. Jetzt muss sie, mit Anfang 20, sehen, dass sie zumindest irgendwie die 400 Euro in der Woche zusammenbekommt.
„Viele meiner Kolleginnen sind nach dem Arbeitsverbot sofort nach Hause geflogen, aber ich habe gedacht, in zwei Wochen ist das auch wieder vorbei.“ Nun versucht Octaviana bei der „Laufkundschaft“ ihr Glück. Nur sind in letzter Zeit wenig Menschen unterwegs, man soll ja möglichst zu Hause bleiben. Sie ist in Deutschland selbstverständlich nicht gemeldet, hat keine Steuernummer und schon gar keine Krankenversicherung. Sie ist sozialpolitisch absolutes Corona-Treibgut. Alle staatlichen Soforthilfen sind an ihr vorbeigeflossen und Hartz IV kann sie auch nicht beantragen. Denn Octaviana gibt es in Deutschland offiziell nicht, auch wenn sie an diesem Nachmittag in dem kleinen Park neben dem Spielplatz an der Genthiner Straße in der Sonne sitzt.
Prostitution ist seit Mitte März verboten
Auch die 24-jährige Scarlett hat in diesem April viel Zeit, um in der Sonne zu sitzen. Sie arbeitete bis Mitte März noch in einem Bizarr-Studio als Sklavin. Von einem Tag auf den nächsten war sie arbeitslos. „Ich bin gelernte Friseurin und habe jetzt als Modell in meiner Vier-Tage-Woche so viel verdient, wie in meinem alten Job in einem Monat“, erzählt die Brünette. „Ich komme aus der Kinky-Szene und habe meine Vorliebe zum Beruf gemacht, doch seit Mitte März ist Dunkeltuten angesagt. Weil ich kein Studio habe, wo ich meine Kunden privat empfangen könnte. In meiner Wohnung geht es nicht: Meine spießigen Nachbarn haben sowieso ein Auge auf mein Treiben.“ Sie hat auch die 5.000 Euro Soforthilfe bekommen, damit käme sie auf jeden Fall bis August hin „und dann sehen wir weiter“. Bizarr-Lady Scarlett hat den Glauben an die Zukunft also noch nicht verloren.
Als Johanna Weber die Geschichte hört, muss sie schmunzeln. „Ja, die jungen Leute sind manchmal erfreulich pragmatisch.“ Die 52-jährige Unternehmerin hat vor fast 30 Jahren in der Branche angefangen und ist Mitinhaberin eines der angesagtesten Studios für Erotik und sexuelle Fantasien in der Hauptstadt. Obendrein sitzt Johanna Weber im Vorstand des Bundesverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen (BesD). Dort ist sie seit Jahren die Politikbeauftragte. „Für Scarlett freut es mich natürlich, dass sie die 5.000 Euro Soforthilfe als Selbstständige bekommen hat, denn diese Maßnahme wertet auch unseren Berufsstand auf. Wir Erotik-Dienstleister wurden dadurch in eine Reihe mit anderen Solo-Selbstständigen wie Musiklehrer, Schauspieler oder Journalisten gestellt“, sagt Sexarbeiterin Johanna im FORUM-Interview. Doch die ganze Soforthilfe hat einen Pferdefuß. „So wie ich das verstanden habe, wurden die 5.000 Euro für Liquiditätsengpässe bei den Betriebskosten ausgezahlt. Doch eine Sexarbeiterin hat keine wirklich hohen Betriebskosten. Sie hat ein Arbeitshandy und vielleicht einen Internetanschluss, und das war es dann auch.“ Also könnte sich der Berufsstand wahrscheinlich darauf vorbereiten, einen guten Teil der Soforthilfe mit dem Steuerabschluss 2020 zurückzahlen zu müssen.

Gedanken macht sich Johanna Weber über die vielen Kolleginnen, die ihre Sexarbeit nicht hauptberuflich machen. „Es gibt in unserer Branche viele, die im Hauptberuf Arzthelferin, Altenpflegerin, Krankenschwester oder Verkäuferin sind. Doch diese Jobs sind so belastend und schlecht bezahlt, dass die Frauen auf eine halbe Stelle runtergehen und zusätzlich in der Sexarbeit tätig sind. Dieser Zusatzverdienst bricht nun weg. Ebenso geht es Studierenden, die zum Beispiel als Escort arbeiten.“
Prekäre Bedingungen
Sorgen macht sich Weber auch um die Sexarbeitenden, die durch alle Maschen des staatlichen Netzes fallen. „Das sind Kolleginnen, die schon immer von der Hand in den Mund gelebt haben. Sie arbeiten unter sehr prekären Bedingungen und zu viel zu niedrigen Preisen.“ Die Situation dieser Menschen war auch vorher schon schlimm, aber Corona hat ihre Lage weiter verschlimmert. „Sie sind nun gezwungen, illegal weiter anzuschaffen, denn der Staat hat für diesen Personenkreis keine Hilfen vorgesehen“, sagt Weber.

Darum hat der Bundesverband erotische und sexuelle Dienstleistungen nun einen eigenen Hilfsfonds gegründet, um diesen Sexarbeiterinnen aus dem Gröbsten heraus zu helfen. „Ich hoffe nur, dass wir spätestens Ende Juli unser Studio wieder aufmachen können, ansonsten wird es finanziell auch für uns eng. Denn dann sind, trotz 14.000 Euro Soforthilfe, auch unsere Rücklagen aufgebraucht. Wir haben hier alles runtergedampft, aber immer noch bleiben monatlich 7.000 Euro feste Kosten.“ Auf die Nachfrage, ob Online-Angebote nicht eine Alternative wären, zuckt Domina Johanna nur mit den Schultern. „Unsere Klientel möchte schon ganz gern berührt werden. Online-Sessions oder Pornofilm-Drehs als Alternative sind für uns auf die Schnelle nicht umsetzbar. Das ist ein anderer Tätigkeitsbereich.“
Allgemein gibt es auf dem Pornofilmmarkt derzeit nur wenige Neuheiten aus deutschen Landen. Theater und Opern sind zu, die neuen „Tatort“-Folgen können auch nicht abgedreht werden, und logischerweise steht erst recht der Porno-Dreh still, weil da nun einmal absolut keine Abstandsregeln eingehalten werden können. Für die Stars und Sternchen dieses Unterhaltungssegments wie etwa Micaela Schäfer ist das eine berufliche Katastrophe, vergleichbar mit der ihrer weniger bekannten Kolleginnen und Kollegen in den Clubs.
Porno-Branche kann nicht produzieren
„Ausgerechnet jetzt, wo unsere Fans sich zu Hause langweilen und heiß sind auf neuen Content, können wir nicht produzieren“, ärgert sich Andreas Kirchen. Der 60-Jährige ist Produzent und Verleger im Erotik-Business bei der VPS-Film-Entertainment und hat schon harte Zeiten hinter sich. Die Digitalisierung hat die Sex-Branche in den letzten 15 Jahren brutal aufgemischt. Sie hat nicht nur Beate Uhses Geschäft zerstört. „Nun trägt sie dazu bei, dass unsere Inhalte nur noch online gestreamt werden“, erzählt Kirchen.

Doch das Live-Streaming habe in Corona-Zeiten auch so seine Tücken wegen der mangelnden Netzstabilität, erzählt dagegen Cam-Girl Cathrin-Ann aus Würzburg. Die 28-Jährige konkurriert nun von ihrer Wohnung aus mit ihren Nachbarn, die plötzlich alle zu Hause vor dem Computer sitzen, Filme schauen oder „zoomen“ und ihr damit die Datenautobahn verstopfen.
Diese Probleme haben Octaviana und Scarlett nicht. Die junge Frau aus Rumänien hat einen ihrer Stammfreier wiedergetroffen. Bei ihm wohnt sie nun erst einmal. Sklavin Scarlett hat sich über das Arbeitsamt eine Umschulung organisiert. Sie möchte jetzt Altenpflegerin werden.