Seit ihrem Wimbledon-Sieg 2018 wirkt Angelique Kerber zunehmend konzeptlos. Durch das frühe Ausscheiden bei den French Open verpasste sie erneut die Chance auf den Karriere-Grand-Slam.
Immer öfter wirkt Angelique Kerber, Deutschlands beste Tennisspielerin seit Steffi Graf, merkwürdig abwesend. Sie agiert geradezu uninteressiert, wenn sie auf dem Court steht. So auch bei den French Open, die dieses Jahr erst im Herbst stattfanden. Dabei ging es dort jüngst um ihren Karriere-Grand-Slam, den Angie als elfte Spielerin überhaupt hätte erreichen können: Nach ihren Titeln bei den Australian Open und in New York 2016, sowie der Tenniskrone 2018 in Wimbledon, fehlt ihr nur noch der Sandplatz-Grand-Slam.
Doch in einen Sieg auf tiefem Sand hineinzurutschen, fällt der in Kiel aufgewachsenen Linkshänderin besonders schwer. Mehr noch in einem Jahr wie diesem – mit kaum Matchpraxis in den sonst auffallend lauffreudigen Beinen; auf der nassen Asche von Paris im feuchtkalten Herbst statt auf lauwarmem Sand im sonnigen Frühling. Ohne Zuschauer in der Abenddämmerung, die sie anfeuern. Nach mehr als sechsstündiger Wartezeit auf das Ende der Open-End-Fünfsatzpartie vor ihrem Erstrunden-Auftritt. Zehnmal wärmte die 32-Jährige sich auf und wurde doch nicht heiß auf ihr Match. Nach kaum einer Stunde war der mutlose Anlauf auf den Karriere-Grand-Slam mit 3:6, 3:6 gegen eine Unbekannte vorbei. Krise in der Anfahrt zum Ende, in einer von Ups und Downs geprägten Karriere? „Ich könnte jetzt nach Entschuldigungen suchen, aber so bin ich nicht“, sagte Kerber nach dem Match.
Variantenreiche Tricks fehlen
Manche von Angies Gegnerinnen kennen die dreimalige Grand-Slam-Siegerin sehr gut. Sie haben schon öfter gegen sie gespielt oder ihre Partien zumindest intensiv studiert. Die 19-jährige Kaja Juvan gehört zu Letzeren. Erst zum zweiten Mal war die Slowenin, Nummer 102 der Welt, in der Hauptrunde von Roland Garros dabei. Die Atmosphäre, die Gegnerin waren für sie neu. Doch die 19-Jährige griff unbekümmert und sichtlich gut vorbereitet an. Sie stieß auf wenig Gegenwehr bei der Match-Favoritin, die nach fast 18 erfolgreichen Profijahren überlegen hätte auftreten müssen. Die aber seit ihrem Triumph beim Rasenmajor von Wimbledon kein Viertelfinale in einem der vier Grand Slams mehr erreicht hat.
Die jugendlich-freche Juvan traf auf eine Ex-Nummer eins mit hängenden Schultern. Überraschendes, Neues kommt inzwischen selten von Angie. Diverse Wechsel zu Startrainern wie Dieter Kindlman, Raemon Sluiter und Wim Fissette haben ihre Technik vor allem beim Aufschlag verbessert. Variantenreiche Tricks fehlen der Nummer 22 der Welt dennoch. Die Rückkehr zu ihrem Langzeittrainer Torben Beltz brachte ihr genügend Auftrieb für den Achtelfinal-Einzug in New York. Doch auf dem rutschigen Sand des Majors in Frankreich fand Kerber keinen Halt: Zum vierten Mal in fünf Jahren ist die 32-Jährige beim Sandplatz-Spitzenturnier in Paris in der ersten Runde gescheitert.
Dominanz demonstriert Serena Williams, die den Rekord-Grand-Slam mit 24 Titeln will, nach wie vor. Zuerst stöhnt und schnauft sie, kommt nicht recht vom Fleck, kassiert Breaks. Doch dann legt sie zu, schaut die Punktetafel an und überrollt ihre weniger erfahrenen Gegnerinnen ohne zu zögern.
Auch Kerber kann sich steigern, aufdrehen, variabel über den Platz flitzen, bis der Gegnerin Hören und Sehen vergehen. Wenn sie einen guten Tag hat. Ein wenig Angst bekommen ihre Fans, wenn Angie aus müden Augen zwinkert. Das kann der Anfang vom Ende einer Partie sein oder der Start zum Aufbäumen gegen die jungen Häschen, die oft alles andere als harmlos sind. Der Respekt vor der früheren Nummer eins der Welt, die einst 34 Wochen an der Spitze stand, bröckelt aber.
Maria Sharapova trat am Anfang des Jahres in einer ähnlich ratlosen Situation zurück. Die Russin war während ihrer Karriere nur 21 Wochen die Ranglistenerste. Die Sponsoren-Millionärin ist im ewigen Ranking keineswegs so weit oben wie Kerber. Doch deren Chancen, ein wenig näher an die unerreichbare Steffi Graf aufzuschließen, die 377 Wochen lang ein Synonym für „Weltranglistenführende“ war, schwinden, während ihre Unscheinbarkeit auf dem Platz zunimmt.
In New York war die gebürtige Bremerin, die ihre Verletzungs- und Corona-Pause nach den Australian Open bei ihren Großeltern in Polen verbrachte, noch bester Dinge. Nach drei Jahren Abstinenz endlich wieder unterstützt von ihrem vertrauten Langzeitcoach Beltz, der ihr stets gern Informationen zu ihren Gegnerinnen besorgt. Ein gelungener Re-Start, bei dem sie mental stark um Breaks kämpfte. Und bei den French Open wartete eine scheinbar günstige Auslosung auf Angie.
Doch das feucht-kühle Wetter spielte Kerber nicht in die Hände für ein gelungenes Sandplatz-Turnier im Herbst ihrer Karriere. Das Warten, bis Angie im nächtlichen Regen bei Flutlicht endlich in die erste Runde starten durfte. Ihre Vorgänger auf dem Platz hatten mehr als sechs Stunden für das zweitlängste Match der Turniergeschichte gebraucht. Gut durchgewärmt wirkten der Italiener Lorenzo Giustino und der Franzoe Corentin Moutet, als sie schließlich von Platz 14 gingen. Doch anders als der siegreiche Neapolitaner fühlte sich Kerber sichtlich unwohl auf dem kalten Court. Schockierend wirkte ihre mentale Abwesenheit auf dem Platz. Sie wurde nie warm, in den gerade mal 45 Minuten, die es dauerte, bis der Matchgewinn beim Stand von 3:6, 0:5 für sie unerreichbar geworden war.
„Die Bälle sind total schwer“
„Ja also, schee is es net“, sagte Laura Siegemund bei Eurosport, als sie nach den Bedingungen in Paris im Frühherbst gefragt wurde. „Nieselregen, der Sand ist total schwer, die Bälle sind total schwer, das geht echt auf den Arm. Da muss ich meine Arschbacken zusammenkneifen und damit klarkommen. Das hilft halt nix“, befand die amtierende US-Open-Siegerin im Doppel. Deren Agilität, genährt durch mentales Selbstcoaching nach ihrem Psychologie-Studium, war in Frankreich ein Kontrapunkt zu Angies Apathie. Doch dann zwickte Siegemunds Rücken in der zweiten Runde gegen Julia Görges.
Laura spielte zumindest in der ersten Runde der French Open gegen die Französin Kristina Mladenovic Punkt für Punkt, bis sie nach schwachem Start den ersten Satz mit 7:6 gewann. Von 1:5 arbeitete sie sich hoch, wehrte sieben Satzbälle der ehemaligen Nummer zehn der Welt ab. Der zweite Satz brachte sogar ein 6:3 für Siegemund: Wohlüberlegte und gut platzierte Stoppbälle waren ihr Rezept. Boris Becker liebt Siegemunds „Quirligkeit“, ihre „langen Socken“. Die Tennis-Legende sagte in „Matchball Becker“ über ihren Auftritt: „Auch heute wieder eine Augenweide.“ Am Ende hatte es Laura Siegemund sogar bis ins Viertelfinale der French Open geschafft.
Andere schöne Momente memoriert Kerber. 2016 war „amazing“, erinnerte sich Angie auf „Tennis Channel“. „Es ist egal, was war und kommt. Das war das beste Jahr in meinem Leben, zwei Grand-Slam-Titel, ich habe eine Olympische Medaille.“ 2017 folgten Einbrüche, 2018 der Wimbledon-Titel. Danach nicht einmal mehr Viertelfinal-Teilnahmen bei den Grand Slams.
„Sie hat kein Konzept zum Punktegewinn“, wunderte sich Barbara Rittner, Chefin im deutschen Damentennis, während Angies jüngster Erstrunden-Pleite auf Eurosport. „Es gibt solche Tage“, bilanzierte die ratlose Kerber. Stimmt, kennt jeder. Doch wenn sie häufiger werden, tauchen Fragen auf. Nach Angies Karriereende. Nach der Zukunft ohne die Generation der Wunder-Mädchen Kerber, Görges, Andrea Petkovic und Sabine Lisicki. Sie alle tummelten sich einst in den Top Ten und wollen nun bald aussteigen.
„Feuer“ fühlt Petkovic noch in sich, die bei den US Open und Roland Garros in Runde eins verlor. Das darf passieren, wenn das verletzte Knie immer wieder zwickt. Ein abschließendes, schönes Jahr will sich die angehende Sportmoderatorin gönnen. Auströpfeln lassen, auch wenn sie sichtbar weiterhin brennt.
Bei Angie ist die Flamme sehr schwach geworden. Die 32-Jährige hat fast 30 Millionen US-Dollar Preisgeld eingespielt. Sie besitzt ihre eigene Akademie in Polen, ist als Turnierdirektorin in Bad Homburg gesetzt. Doch noch ist Kerber Spielerin. Eine, die nach einer langen Karriere nur große Turniere bereisen will. Eigentlich. Denn der Turnierkalender der Damen ist erschreckend leer. Die einträgliche Asien-Tour wurde abgesagt.