Verlassene Kleinstädte, desolate Behausungen im Nirgendwo, Polizeigewalt bei Demonstrationen. Eine Fotoausstellung in den Hamburger Deichtorhallen zeigt schwarz-weiße Meisterwerke aus den USA von Matt Black und Jerry Berndt.
Drohend scheinen sich Wolken zusammenzuballen, ziehen über einen gewaltig wirkenden Himmel. Weit reicht der Blick in eine karg bewachsene Landschaft, aus der einzelne Pfähle von Weidezäunen aufragen. Und im Vordergrund: eine Hand, die auf einem dieser wettergegerbten Holzpfähle ruht, ein Arm, der in einem Jeanshemd verschwindet. Die restliche Person muss sich der Betrachter denken. Klar ist zumindest: Es handelt sich um einen Afroamerikaner, vermutlich einen älteren Menschen, so würde man aus der zerfurchten Haut schließen. Es könnte aber auch ein jüngerer Mann sein, ein Farmarbeiter, dessen harte Arbeit bei Wind und Wetter ihn vorzeitig altern ließ. Ehe sich der Betrachter von Matt Blacks Aufnahme „Allensworth, California" versieht, hat sich der Assoziationsprozess schon in Gang gesetzt.
Schwarz-weiß sind die Werke des 1970 geborenen amerikanischen Magnum-Fotografen – aus seiner Reihe „American Geography", einem Langzeitprojekt, mit dem er 2014 begann. Vor sechs Jahren hatte Black in der Umgebung seines Wohnortes in Kalifornien fotografiert, in Gegenden, die so gar nicht dem weit verbreiteten Bild des hippen Westküstenstaats mit seinen Stränden, seinen Hollywoodstars oder dem Silicon Valley entsprechen. An Orten, an denen die Zeit stehengeblieben zu sein scheint und Tankstelle oder Diner wie übriggebliebene Fragmente einer früheren Zivilisation daherkommen.
Er habe zunächst gegen den Mythos des „Golden State" ankämpfen wollen, erzählte der Fotograf in einer der zahlreichen Online-Konferenzen im Vorfeld der Ausstellung. Und habe nach den ersten Aufnahmen aus Kalifornien beschlossen, das Fotoprojekt auszuweiten. Das sei der Startpunkt für mehrere monatelange Touren quer durch die USA gewesen. Einen roten Faden gab es dabei, denn Black reiste nur in Orte, in denen die Armutsquote höher als 20 Prozent ist. 46 Staaten besuchte der Fotograf auf diesen Reisen, legte rund 160.000 Kilometer zurück – und das in Bussen! Fuhr von Kalifornien über New Mexico nach Wyoming, von New Orleans in Louisiana nach Indiana und dann wieder zurück in den Süden, in die Kleinstadt Drew in Mississippi.
Black zeigt das Gefühl der Machtlosigkeit
75 der dabei entstandenen Fotos und acht Panoramen sind nun großzügig angeordnet in den lichtdurchströmten Deichtorhallen zu sehen. Beeindruckende Momentaufnahmen einer Gesellschaft, die der Gegenentwurf des vielzitierten American Dream ist. Der einsame Passant in einer menschenleeren Kleinstadt in Kalifornien, der sich mit dem Kopf an einem Strommast abzustützen scheint. Die junge Frau, die in einem karg eingerichteten Zimmer vor einem antiquiert anmutenden Holzofen Wärme sucht. Oder das strassbestückte Abendkleid in einem Schaufenster einer heruntergekommenen Kleinstadt. Black zeigt Städtchen, in denen die Landwirtschaft nicht mehr den Lebensunterhalt ihrer Bewohner sichern kann, in denen Industrien eingegangen sind. Und nur ihre Hinterlassenschaften dafür sorgen, dass die lokalen Krebsraten überdurchschnittlich hoch sind. Es sind Aufnahmen voller Schwermut, mit Gesichtern, die von Hoffnungslosigkeit geprägt sind. Aufnahmen, die – so formuliert es Kurator Ingo Taubhorn – dem Mythos vom „Land der unbegrenzten Möglichkeiten" geradezu spotten.
Flankierend dazu haben die Ausstellungsorganisatoren Textpassagen von Matt Black ausgewählt. In einem dunklen Raum hängen die Tagebucheinträge wie große Buchseiten von der Decke. Hier erzählt der Fotograf – zumeist in nüchterner, emotionsloser Sprache – die „Geschichten hinter den Bildern" oder schildert Szenen, die Aufnahmen in einen Kontext setzen. Manches hört sich absurd an und ist doch einfach nur tieftraurige Realität. Etwa wenn eine Busfahrt in New Mexico beschrieben wird, bei der der Busfahrer die Fahrgäste maßregelt und sie wie Insassen eines Gefängnisses behandelt. „Wir fahren auf der Interstate nach Osten, parallel neben uns die Eisenbahngleise, zwei schwarze Linien, die gemeinsam die Wüste durchschneiden und das Land wie ein doppelter Gürtel umschließen", schreibt Black weiter.
Aufnahmen voller Schwermut und Hoffnungslosigkeit
Von der „American Geography" zum „Beautiful America" – in den Hamburger Deichtorhallen sind es da nur ein paar Schritte von einem Ausstellungssaal zum nächsten. Von Matt Black mit seinem fotografischen Langzeitprojekt zu Jerry Berndt, der – 2013 verstorben – das Amerika der 1960er- bis 1980er-Jahre wie kein anderer Fotograf dokumentierte. Denn Berndt (geboren 1943) fotografierte nicht nur Stadtlandschaften, sondern auch Demonstrationen, war Teil der Protestbewegung und so oft genug dabei, wenn die Demonstranten der martialisch auftretenden Polizei gegenüberstanden. Er dokumentierte Proteste gegen den Vietnamkrieg ebenso wie gegen Rassismus und Atomkraft, setzte sich aber auch in seinen Aufnahmen mit den sozialen und kulturellen Lebensbedingungen der Amerikaner auseinander, vor allen Dingen derer in den sonst oft ignorierten Gettos der Großstädte.
Bis in die 1980er ging es Berndt, zu dem das FBI eine ganze Reihe von Akten anlegte, um politische Konflikte, etwa um die Anti-Vietnam-Bewegung aber auch um unterschwelligen Rassismus. Vieles wird in seinen Szenen aus dem amerikanischen Kleinstadtalltag erst bei genauerem Hinsehen deutlich, darauf macht die Kuratorin der Berndt-Ausstellung, Sabine Schnakenberg, aufmerksam. Ein Paar mit einer Amerikaflagge, ein winziges Abzeichen am Revers der Frau weist darauf hin, dass es sich bei den Beiden wohl um Rechtsextreme handelt, womöglich bei einer Kundgebung. Ähnlich wie bei Matt Black allerdings erschließt sich auch bei Berndt der Kontext nicht sofort, man müsse die „kleinen Hinweise beachten", so Kuratorin Schnakenberg. Schnell kippen dann die zunächst harmlosen Alltagsmomente ins Bedrohliche oder Absurde. Die Kandidatinnen einer „Miss-Wahl" wirken seltsam puppenhaft, die Jungen, die vor einer Backsteinmauer posieren, auf unheimliche Art erwachsen. So, als hätten sie für ihr Alter schon viel zu viel erlebt und gesehen.
Beeindruckend auch die Serie „Missing Persons" – Jerry Berndt fotografierte dafür von 1983 bis 1985 in einer Obdachlosenunterkunft in Boston. Es sind die Abgehängten, die Berndt hier zeigt – und ihnen so nahekommt, dass der Betrachter die von Adern durchzogene rissige Haut und die faltenzerfurchten Gesichter ungeschönt vor sich hat. Dazu kurze Kommentare, die die Lebensrealität der porträtierten Menschen schonungslos offenlegt – von der jungen Frau, die schwanger von der Familie vor die Tür gesetzt wurde bis hin zur Familie, die selbst im „Shelter" bei einer einfachsten Mahlzeit darauf hofft, dass doch „wieder alles gut wird".
Polizeigewalt und Obdachlose
Jerry Berndt arbeitete in seiner über 40-jährigen Karriere für renommierte Magazine und Zeitungen wie „Newsweek", den „Boston Globe" oder „Paris Match". Er dokumentierte den Völkermord in Ruanda ebenso wie den Bürgerkrieg in Haiti. 1998 zog Berndt nach Paris, starb dort 2013 in seinem Atelier. Seine Witwe gründete den Jerry Berndt Estate, der den Deichtorhallen für die Ausstellung eine ganze Reihe von Aufnahmen zur Verfügung gestellt hat. Ebenso wie bei Matt Black durchziehen die Fotos von Berndt eine tiefe Melancholie; unbefangen lachende Menschen sucht man auf all den Fotos vergebens.
Wie eine Klammer zwischen den beiden Ausstellungen mit ihren Schwarzweiß-Aufnahmen, wie eine Art bunter flirrender Puffer kommt die Installation „#Protestsgoviral" daher. Im mittleren Saal der Deichtorhallen können Besucher nämlich in Echtzeit verfolgen, welche Postings auf Twitter unter verschiedenen Hashtags auflaufen. Und das auf nebeneinander montierten großen Screens. Kurz vor den Präsidentschaftswahlen geht es dabei einerseits um das #maga (make america great again) der Trump-Anhänger aber auch um Hashtags seiner politischen Gegner wie #RemoveTrump. Weitere Themen sind die Demonstrationen nach dem Tod des Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt, die Proteste gegen Rassismus und die Klimaproteste der „Fridays for Future"-Bewegung. Spannend ist es, zumindest ein paar Minuten lang zuzusehen, wie viele Posts und Kommentare da in Sekundenschnelle unter den verschiedenen Hashtags, den Schlagworten zusammenkommen. Eine Meinungsvielfalt, die auf noch einmal andere Weise das Amerika Jerry Berndts und Matt Blacks widerspiegelt – deren Aufnahmen heute aktueller scheinen denn je.