Zermürbend lange Verhandlungen, interne politische Querelen in Großbritannien und eine geduldige, aber hart verhandelnde EU prägten das abgelaufene Jahr. An dessen Ende steht eines fest: Die Briten treten aus – mit oder ohne Vertrag.
Wenn Boris Johnson auf das Jahr 2020 zurückblickt, dann wird es für ihn ein „Annus horribilis" sein, ein „schreckliches Jahr". So stöhnte schon Queen Elizabeth II., als sich 1992 zu Ende neigte. Damals zerstörte ein Feuer Teile von Schloss Windsor, dann zerbrachen auch noch die Ehen ihres zweiten Sohnes Prinz Andrew sowie ihrer Tochter Anne. Auch für Johnson geht es um eine Scheidung: Die Auflösung des Ehevertrages zwischen der Europäischen Union (EU) und dem Vereinigten Königreich wurde Woche für Woche, wie in den Jahren seit der offiziellen Austrittserklärung der Briten 2017, zäh wie Kaugummi, verhandelt. Jetzt, zum Jahresende, wirkt der konservative Premier Johnson abgekämpft und erschöpft. Deutliche Augenringe, eine etwas gebücktere Haltung als sonst zeigen einen desillusionierten Mann. Das liegt natürlich nicht nur am Brexit. Auch innenpolitisch steht Johnson stark unter Druck. 2020 brannte es an zahllosen Stellen zugleich: eine aus dem Ruder gelaufene Corona-Krise, die womöglich bevorstehende schwerste Rezession seit mehr als 300 Jahren, unzählige Reibereien in seiner Partei. Aber vor allem der Brexit dürfte besonders stark auf dem jovialen Populisten gelastet haben. Denn das Ausscheiden aus der EU berührt nichts weniger als die Zukunft seiner Nation – und den Zusammenhalt seiner Tories. Das Vereinigte Königreich muss einen neuen Kurs finden, nun, wo es kein Mitglied des Staatenverbundes mit 450 Millionen Einwohnern mehr ist.
Der Hausherr in der Londoner Downing Street Nr. 10 hatte lange darauf gehofft, dass sein wesensverwandter US-Kollege Donald J. Trump auf der anderen Seite des Atlantiks am Ruder bleiben würde. Mit dem erklärten Brexit-Befürworter aus dem Weißen Haus wollte Johnson ein großes Ding drehen. Die Vision war eine amerikanisch-britische Freihandelszone als Gegengewicht zur EU. Seinen ehrgeizigen Plan von „Make Britain great again" konnte Johnson abschreiben, als klar wurde, dass der künftige US-Präsident Joe Biden heißt.
Der ist nämlich stolz darauf, von irischen Auswanderern abzustammen. Und weil das Land seiner Vorfahren heißblütig proeuropäisch ist, outete sich auch Biden als erklärter Brexit-Gegner – und hielt damit nicht hinter dem Berg. Es komme nicht in die Tüte, dass die künftige EU-Außengrenze zwischen der Republik Irland und dem britischen Nordirland befestigt werde, drohte der Demokrat öffentlich in Richtung London. Damit stach Biden ins Wespennest: Die Grenze zwischen dem britisch kontrollierten Norden und der Republik Irland ist eines der kompliziertesten Brexit-Themen.
Desillusioniert und erschöpft
Die Töne aus Washington haben die Position der Iren gegenüber ihrem nahen britischen Nachbarn deutlich gestärkt. Die Freude über den Sieg des regelmäßigen Irlandbesuchers Biden, der bekennt, dass Irland „in meine Seele eingeschrieben" ist, konnte im politischen Dublin kaum verborgen bleiben. Für Regierungschef Micheál Martin war der Abgang Trumps sogar wie ein kleiner Coup. Er kann sich nun berechtigte Hoffnungen machen, dass die grüne Insel wegen ihres guten Drahtes zu Biden eine Art Mittlerrolle zwischen der EU und den USA einnehmen kann.
Während die Iren also mit sich im Reinen sind, muss Johnson bilanzieren, dass kein anderes Thema der Neuzeit das Vereinigte Königreich so uneinig gemacht hat, wie der Austritt aus der Europäischen Union. Der wortgewaltige „BoJo" hat in seinem ersten vollen Amtsjahr spüren müssen, dass der von ihm so glühend gewollte Brexit explosive politische Sprengkraft hat. Einerseits machten wichtige Wirtschaftskreise Druck, den Kontinentaleuropäern bloß nicht zu viel entgegenzukommen. Andererseits hatte die EU-Diplomatie in den Verhandlungen über das künftige Verhältnis zur Inselmonarchie so viele Sprengsätze angebracht, dass der sonst so machtbewusste Wuschelkopf mehrmals daran gedacht haben soll, alles ungeordnet hinzuwerfen.
Der „äußere Feind" in Brüssel ließ sich durch immer wieder abgesetzte Drohungen aus London nicht beirren. EU-Chefunterhändler Michel Barnier verhandelte hart. Indessen entwickelte sich der Brexit zu einem der dicksten innenpolitischen Brocken Britanniens. Besonders die Fischer an der fast 13.000 Kilometer langen britischen Küste, viele von ihnen Brexit-Befürworter, rannten Sturm gegen die Aussicht, ihre Fanggründe rund um die Inseln womöglich weiter mit Kollegen aus Festlandeuropa teilen zu müssen. Das verlangt die EU, denn die Fischgründe rund um England sind reichhaltig.
Zwar macht die Fischerei nur etwa 0,2 Prozent der britischen Wirtschaftskraft aus, etwa so viel, wie das Londoner Edelkaufhaus Harrods jährlich umsetzt. Aber die Fischerei ist für die einst weltweit mächtige Seefahrernation zum Symbol für ihre nationale Souveränität geworden. Immer wieder warfen die Fischer der EU vor, dass die Trawler aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden und Spanien mehr Fische aus den Inselgewässern holen als die Briten selbst.
Besonders hoch schlugen die Erregungswogen in den schon immer EU-skeptischen Küstenorten. Vielerorts zählt das Netzauswerfen dort bis heute zum wichtigsten Erwerbszweig. Allerdings ist die Branche hoffnungslos antiquiert: Veredlungsbetriebe sind rar auf der Insel und die Wertschöpfung daher gering. Dieses Versäumnis kam allerdings nicht zur Sprache, als Johnson kürzlich in den nordenglischen Fischereihafen Grimsby eilte, um vor Fotografen einen riesigen Dorsch in den Arm zu nehmen. Brexit-Minister Michael Gove störrisch: „Nur wir legen die Regeln fest, nach denen andere in unseren Gewässern fischen dürfen."
Britische Fischer gegen die EU
Geschickt wetterte die Branche – die in der Hand weniger Großfirmen ist – gegen EU-Fangquoten, Schutzzonen für Fische oder die Tatsache, dass mehr als 60 Prozent der angelandeten Tonnage aus britischen Gewässern von ausländischen Firmen aus dem Wasser gezogen wird. So stilisierten sich die kampfeslustigen Fischereiverbände zu Helden der Landesverteidigung hoch. EU-Emissär Barnier wiederum machte klar, dass die 27 im Staatenverbund verbliebenen Staaten keine Zerstörung von Teilen ihrer eigenen Fischindustrie hinnehmen würden.
Zugleich musste Johnson offensichtlich zu Tage tretende Brexit-Absonderlichkeiten abfedern. So malten Gegner des EU-Austritts genüsslich Horrorszenarien an die Wand, wonach sich beim endgültigen Goodbye vor den britischen Zollabfertigungen am Ärmelkanal täglich tausende Lkw aufstauen würden – daraufhin: ein Aufschrei in der Logistikbranche. Um die Gemüter an der englischen Südküste zu beruhigen ließ die britische Zentralregierung zahlreiche Großparkplätze in die liebliche Landschaft der Grafschaft Kent fräsen. Neues Aufmarschgebiet des Fährhafens Dover. Das wiederum führte zum Aufstand von Anwohnern und Umweltschützern. Die wollen partout nicht einsehen, dass es bald mit der Ruhe in den idyllischen Landstrichen dahin sein wird.
Eines scheint klar: Das Zusammenspiel des selbstgewählten Isolationisten Großbritannien mit dem gemeinsamen EU-Binnenmarkt wird nach dem endgültigen Trennungsdatum am 1. Januar 2021 kompliziert bleiben. Weiterhin wird die EU alles tun, um zu verhindern, dass vor ihren Toren eine Dumpingoase mit minimalen Sozial-, Arbeits- oder Umweltstandards entsteht. Genau das aber strebt Johnson an. Der Ärmelkanal ist künftig kein Gewässer der Verbindung mehr. Er ist ein tiefer Trennungsgraben geworden.