Angler schwärmen von ihr, Umweltschützer betrachten sie voller Sorge: die Weiße Elster. Seit jeher ist der Fluss die Lebensader für Menschen und Tiere im südlichen Osten der Republik. Doch über die Region hinaus kennt ihn kaum jemand. Die Auszeichnung zur Flusslandschaft des Jahres soll das ändern.
Die Weiße Elster versteckt sich. Wie so oft auf dieser Reise. Seit Jahrhunderten verändern die Menschen den Lauf des Flusses, sperren ihn hinter Dämme und Ufermauern, bauen Wehre und Talsperren. An vielen Stellen musste er sein altes Bett verlassen, sich von seinen Auen trennen. Doch hier, im mittelvogtländischen Kuppenland, zwischen Plauen und Elsterberg, soll die Weiße Elster naturnah fließen. Andreas Röhr, 66, Physiker und langjähriges Mitglied des Bundes für Umwelt und Naturschutz (BUND), steht auf einem grasbewachsenen Hügelkamm am Rand des Plauener Stadtwaldes. „Dort", sagt Röhr, „ist der Fluss." Er zeigt auf eine von Bäumen gesäumte Flusslinie. Eingerahmt von Hügeln, Wäldern und Feldern schlängelt sich die Weiße Elster durch das Tal. Ein Postkartenpanorama.
Doch die Idylle trügt. Für Naturschützer ist die Weiße Elster nach wie vor ein Sorgenkind. Der gut 250 Kilometer lange Fluss, der ein paar Kilometer hinter der Grenze im tschechischen Elstergebirge östlich von AÅ¡ entspringt, dann durch Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt fließt und schließlich bei Halle in die Saale mündet, gehört zu den am stärksten belasteten Fließgewässern Mitteldeutschlands. Jahrzehntelang landeten die Abwässer der angesiedelten ÂIndustriebetriebe in dem Fluss. Früher konnten die Menschen am Wasser erkennen, mit welchen Farben die Textilfabriken gerade färbten, erinnert sich Röhr. „Nach der Wende wurde die Textilindustrie dann innerhalb eines Jahres stillgelegt und abgewickelt." Die Wasserqualität habe sich danach stark verbessert. Trotzdem gebe es bei der Gewässergüte noch Luft nach oben. Die Talsperre Pöhl, die nur wenige Kilometer entfernt liegt, wachse im heißen Sommer mit Algen zu. „Das ist ein Zeichen dafür, dass von den landwirtschaftlichen Flächen Düngemittel in den Fluss gelangen."
Ein Papier des sächsischen Landesamtes für Umwelt, Landwirtschaft und Geologie bewertet den ökologischen Zustand auf diesem Streckenabschnitt als „unbefriedigend". Kommunale Abwässer, kontaminierte Gebiete und aufgegebene Industriegelände würden zum schlechten Zustand der Elster beitragen. Im Wasser sammeln sich Schadstoffe jenseits der zugelassenen Grenzwerte, darunter Quecksilber. Die Vorgaben der EU-Wasserrahmenrichtlinie verfehlt die Weiße Elster deutlich. Trotzdem wählten der Deutsche Angelfischerverband und der Verband der Naturfreunde die Weiße Elster zur Flusslandschaft des Jahres 2020/21. Das Bundesumweltministerium unterstützt die Initiative, die das öffentliche Interesse auf das blaue Band im Südosten Deutschlands lenken soll. Auf eine Kulturlandschaft, die vom Berg- und Tagebau geprägt ist. Auf eine Flusslandschaft, die es zu schützen gilt. Auf einen Erinnerungsort, der außerhalb der Region kaum bekannt ist. Das soll sich ändern.
Tourismus existiert so gut wie nicht
Nur wenige Kilometer flussabwärts überschreitet die Weiße Elster die Landesgrenze zu Thüringen. Direkt dahinter beginnt das Flora-Fauna-Habitat und gleichnamige Vogelschutzgebiet „Elstertal zwischen Greiz und Wünschendorf". Auf dem letzten Streckenabschnitt dieses Habitats vermietet Erik Naumann, 40, seit zwei Jahren Schlauchboote. „Lerne deine Heimat von einer anderen Seite kennen", wirbt er auf der Internetseite seines Bootsverleihs „Elster Rafting". Touristen kommen selten. Zu unbekannt ist die Gegend, zu wenig ausgebaut die touristische Infrastruktur. „Letztes Jahr", sagt Neumann, „war mal eine Familie aus Bayern hier."
Erik Naumann zieht ein großes, rotes Schlauchboot ins Wasser. „Ich bin schon als Kind hier langgepaddelt", sagt er und übernimmt das Steuerruder. „Damals waren die Industrieanlagen in Greiz noch in Betrieb und ich stand bis zum Bauch im schwarzen Industrieschlamm." Heute tummeln sich im klaren Wasser Elritze und Döbel. Ihrem Namen wird die Weiße Elster an diesem Morgen jedoch nicht gerecht. Der kommt nämlich keineswegs von dem schwarz-weißen Rabenvogel, sondern vom slawischen „Alstrawa": die Eilende. Von Eile ist heute keine Spur. Gemächlich gleitet das Schlauchboot auf dem Wasser. Eine Bisamratte durchquert den Fluss. Graureiher und Habichte drehen ihre Kreise am Himmel. Das blaue Gefieder der Eisvögel strahlt in der Morgensonne. „Dort sind ihre Nistplätze", sagt Naumann und zeigt auf mehrere Löcher in einer abgebrochenen Uferkante. Auch der unter Schutz gestellte Fischotter sei zurückgekehrt, erklärt Naumann. „Und dieses Jahr auch zum ersten Mal der Biber."
Dann frischt der Wind plötzlich auf und Naumann muss kräftig paddeln, um das Boot auf Kurs zu halten. Der Fluss führt an einem alten Steinbruch vorbei. „Hier hat mein Großvater in den 70er-Jahren die Steine mit einem Pferdeschlitten über das Eis gezogen und damit das Fundament seiner Scheune gebaut." Einige Minuten später zeigt er auf einen schattigen Felsvorsprung, auf dem er als Junge gesessen hat, um Raubfische zu angeln. Sein größter Fang? Ein 93 Zentimeter großer Hecht. Fischreich sei die Weiße Elster mittlerweile wieder, nur der Lachs sei noch nicht zurückgekehrt.
Einer, der nie fortgegangen ist, ist Tilo Wetzel. Er ist in einem kleinen Dorf aufgewachsen, das mittlerweile zu Zeitz gehört, einem Städtchen mit mehr als tausendjähriger Geschichte im Süden von Sachsen-Anhalt. „Ich war seit dem Ende der 1960er-Jahre auf dem Fluss unterwegs, damals noch bei den Slalomkanuten in Zeitz." Im Ronneberger Revier hat er unter Tage „Hauer" gelernt und blieb bis 1989 bei der Wismut AG, dem damals viertgrößten Uranproduzenten der Welt.
„Es war schon vor 20 Jahren absehbar, dass unsere Region in einen wirtschaftlichen Schatten gerät", sagt Wetzel, der sich seit 2018 beim Verband der Naturfreunde engagiert. „Die Weiße Elster", sagt er, „gehört zu den Gewässern, die durch menschliche Einflüsse am nachhaltigsten verändert wurden." Nun sei es an der Zeit, Fehler rückgängig zu machen. Doch dafür brauche es eine breite Aufmerksamkeit für die Probleme des Flusses. „Da ich ihn von der Quelle bis zur Mündung gut kenne, hatte ich mir die Bewerbung für die Flusslandschaft des Jahres auf die Fahne geschrieben." Mit Erfolg. „Nun muss die Weiße Elster bekannter werden", sagt Wetzel. „Immerhin gibt es an ihren Ufern 83 Schlösser, Burgen und Herrenhäuser – eine vergleichbare Dichte wie an der Loire in Frankreich." Aber kaum Besucher von weiter weg.
Floßgraben wurde Wasser abgedreht
Nils Reiche, 41, ist ein Zugereister, der gekommen ist, um zu bleiben. Auf einem Bergsporn, hoch über der Stadt, liegt Kloster Posa. Ein landwirtschaftliches Gut, das längst kein Kloster mehr ist, aber den alten Namen trägt. Auf dem 2,5 Hektar großen Gelände leben heute vier Familien, darunter Nils Reiche mit Frau und Sohn. „Wir waren ein loser Freundeskreis aus Leipzig und wollten irgendwas auf dem Land starten", sagt Reiche. „Zwei aus der Truppe kommen aus Zeitz und wussten, dass die Stadt auf der Suche nach neuen Pächtern ist." Die Freunde bewarben sich bei der Stadt und bekamen den Zuschlag. Vor sechs Jahren zogen sie auf das Gelände.
Am Horizont lässt sich heute das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig sehen. Ganz klein nur, aber die Silhouette ist deutlich erkennbar. Nils Reiche mag diesen Blick auf die sächsische Großstadt, fern und doch ganz nah. „Und da unten sieht man die Weiße Elster", sagt er. „Wir sind hier die letzte Erhebung, bevor der Fluss in die Leipziger Tieflandebene fließt." Doch heute zieht es ihn auf den Weinberg, nur wenige Schritte vom alten Gut entfernt. Auf dem gegenüberliegenden Hang steht eine Plattenbausiedlung. „Unsere Osttoskana", sagt Reiche. „Mit Blick auf die Platte." Das Weingut Kloster Posa gehört zum Weinanbaugebiet Saale-Unstrut, dem nördlichsten Anbaugebiet der Republik. „Dabei müsste es eigentlich Saale-Unstrut-Elster heißen." Mittlerweile gebe es wieder vier Weinberge und sogar eine offizielle Weinroute entlang der Weißen Elster. „Für mich ist hier ein Traum wahr geworden", sagt Reiche und lässt seinen Blick über die Weinreben schweifen.
In Schkauditz, fünfzehn Fahrminuten vom Kloster entfernt, droht derweil ein Traum zu zerplatzen. Zwei Männer stehen auf einer Brücke und blicken auf einen trockengelegten Graben. „Wir sind Technokraten, keine Romantiker", sagt Reinhard Sträßner, 71, vom Förderverein Elsterfloßgraben. „Wir machen auch ein bisschen Folklore, hopsen in unserer Uniform rum, aber darauf wollen wir unsere Vereinsarbeit nicht reduzieren. Wir wollen Wasser in das Ding reinbringen." Der Elsterfloßgraben ist ein ab 1577 angelegtes Kunstgrabensystem, das Holzscheite von der Weißen Elster in der thüringischen Gemeinde Crossen bis nach Halle und Leipzig transportierte. „Ein Kunstwerk der Vermessungstechnik", kommt der Bauingenieur nun doch ins Schwärmen. „Die größte europäische Energiepipeline ihrer Zeit." Doch dem Floßgraben wurde nach der Wende das Wasser abgedreht. Zu viele Anwohner hätten sich über nasse Keller beschwert und fälschlicherweise den Floßgraben verantwortlich gemacht. „Das kam der Politik ganz Recht", sagt Sträßner. Schließlich seien der Erhalt und die Wartung des unter Denkmalschutz stehenden Floßgrabens teuer. „Aber Wasser in der Region zu halten, muss doch ein gesamtgesellschaftliches Anliegen sein", empört er sich. Statt Wasser lande immer mehr Müll im alten Graben. „Alle stillgelegten Dinge mutieren in kürzester Zeit zur Müllhalde."
Braunkohletagebau brauchte mehr Platz
„Das ist einzigartig in Europa", sagt sein Vereinskollege Thomas Klöpfel, 64: „Ein Gewässer erster Ordnung ohne Wasser." Auch dem Verein fehlen die finanziellen Mittel, um den Floßgraben zu revitalisieren. Die Projektplanung ist längst abgeschlossen, doch die Geldquellen sprudeln zu spärlich. „In den letzten zehn Jahren hatten wir ein bisschen Pech mit den Planungen. Durch die zwei Jahrhunderthochwasser brauchte das Landesamt für Hochwasserschutz 40 Millionen Euro für die Sanierung der Deiche." Er blickt in den Graben. „Da blieb für so was kein Geld." Dabei könne der Wartungsweg entlang des Floßgrabens doch wunderbar als Radweg dienen und zahlungskräftige Fahrradtouristen aus der gesamten Republik anlocken. „Wenn wir es jetzt im Zuge der regionalen Umgestaltung durch den Kohleausstieg nicht schaffen, das Projekt zu pushen, dann ist es abgehakt", sagt Klöpfel. Dann wären zehn Jahre Vereinsarbeit umsonst gewesen.
So trübe wie die Stimmung in Schkauditz ist das Wetter in Leipzig-Hartmannsdorf. Durch Nieselregen und starken Wind ist Philipp Wöhner, 34, mit dem Rad stadtauswärts gefahren. Aus dem Leipziger Zentrum vorbei am Elster-Pleiße-Auwald, dem Cospudener See bis zur Staustufe Hartmannsdorf im Südwesten der Stadt. Sein Fahrrad parkt er an einem imposanten Betongerinne. „Was wir hier sehen, erinnert erstmal nicht so sehr an Natur", sagt der Mitarbeiter des Nabu-Regionalverbands Leipzig. „Die Weiße Elster landet hier in einem Tosbecken und fließt dann unter der Autobahn hindurch nach Leipzig." Die Staustufe ist das Ende der „Betonelster", wie der sieben Kilometer lange Abschnitt im Volksmund genannt wird. Im Jahr 1973 brauchte der Braunkohletagebau mehr Platz. Die Weiße Elster war im Weg. Also verlegte man sie kurzerhand in einem Bogen nach Westen. Und kappte damit alle Verbindungen zu ihren ursprünglichen Auen.
„Das ist problematisch, weil zwei Drittel der Auen in Deutschland schon verschwunden sind und von dem, was über ist, nur noch zehn Prozent als naturnah gelten", sagt Wöhner. Tieren und Pflanzen fehle der Lebensraum, Menschen der wichtige „Ökosystemdienstleister" Auwald. Die „Betonelster" wieder naturnah fließen zu lassen, ist eine Mammutaufgabe. „Aber sie muss angegangen werden." Mit einem wütenden Rauschen und Schäumen fällt das Wasser in das Betonbecken.
Wer die Weiße Elster nur mit diesem grauen Ungetüm verbindet, tut ihr Unrecht. Der Weg gen Süden lohnt sich. In diese wildromantische, oft menschenleere Gegend, die der Natur vielerorts wieder Raum lässt. Wo die Eisvögel mit schnellen Flügelschlägen über den Fluss tanzen, Graureiher ihre Beute aus der Weißen Elster fischen und Wildkatzen am Ufer entlangstreifen. Wo es auf dem Fluss so ruhig ist, dass die Zeit für einen kurzen Moment stillzustehen scheint.