In ärmeren Regionen haben Bildungsangebote während der Corona-Krise vor allem Mädchen teilweise gar nicht oder nur unter erschwerten Bedingungen erreicht. Auch ein Anstieg von Zwangsehen wird von Hilfsorganisationen verzeichnet.
Auf den ersten Blick verbindet Yadira und Yusti nicht viel. Sie haben unterschiedliche Muttersprachen und leben mehr als 17.000 Kilometer voneinander entfernt. Yadiras Heimat ist Ecuador, Yusti lebt in Indonesien. Obwohl sich die beiden nicht kennen, gehören sie doch zu den zahllosen Mädchen, denen ihr Recht auf Bildung zu Corona-Zeiten extrem erschwert wird. Weltweit waren oder sind immer noch fast eine Viertelmilliarde Schülerinnen und Schüler von Covid-19-Schulschließungen betroffen. „Die Pandemie ist ein Brennglas auf die Probleme, die wir eh haben", sagt denn auch Kathrin Hartkopf, Sprecherin der Geschäftsführung der Kinderrechtsorganisation Plan International Deutschland. Die Mädchen und auch die Jungen seien zum Teil seit über einem Jahr nicht in der Schule gewesen. „Wir diskutieren das in Deutschland auch, was das für Auswirkungen hat. Nur in diesen Ländern ist es viel extremer." Extremer deshalb, weil zwei von drei Kindern und Jugendlichen in Bildungseinrichtungen auf der Welt zu Hause keinen Internet-Anschluss haben. Sie sind aber aufgrund von Corona-Lockdowns auf virtuelles Lernen angewiesen. 1,3 Milliarden Schüler und Schülerinnen sind davon betroffen. Das ergab zumindest eine Erhebung des Uno-Kinderhilfswerks Unicef.
Die heute 19 Jahre alte Yadira zählte im ersten Corona-Jahr zu den Betroffenen. 2020 wollte die Ecuadorianerin, die mit ihrer Familie in einem abgelegenen Ort in den Anden lebt, ihren Schulabschluss machen. Doch der Unterricht fand auch in Ecuador wegen des monatelangen Lockdowns nur noch virtuell statt. Für jedes Zoom-Meeting, an dem die Schülerin teilnehmen wollte, musste die damals 18-Jährige zu dem am höchsten gelegenen Ort ihrer Gemeinde hochlaufen. Nur so war eine mobile Datenverbindung möglich.
Yadira möchte für die Rechte von Mädchen kämpfen
Die Gegend, in der Yadira zur Schule ging, ist gekennzeichnet von Acker- und Weideland, steilen Straßen voller Geröll und einer dünnen Luft in einer Höhe zwischen 2.200 bis 3.200 Metern über dem Meeresspiegel. Der Ausbruch von Covid-19 hat die Menschen der Andenregion erschüttert. „Nach und nach ging alles im Haus zur Neige, vor allem das Geld und die Lebensmittel", erinnert sich Yadira. Ihre eigene Familie, aber auch die Menschen in ihrer Umgebung seien verängstigt und gestresst gewesen. „Und in vielen Fällen gab es Anzeichen für häusliche Gewalt in den Haushalten", sagt sie.
Yadira hat es am Ende geschafft. Die junge Ecuadorianerin hat die Schule sogar als Klassenbeste abgeschlossen. „In zehn Jahren sehe ich mich als Fachfrau, die die Rechte von missbrauchten Mädchen und Frauen verteidigt", erzählt Yadira voller Selbstbewusstsein. Ihr Traumberuf ist Psychologin. Und zusätzlich will sich das junge Mädchen auf Jura spezialisieren. Schon jetzt ist die 19-Jährige so etwas wie eine Aktivistin. Als Mitglied in der Mädchenbewegung der Kinderrechtsorganisation Plan International setzt sie sich direkt in den Gemeinden für die Gleichstellung von Mädchen und Frauen ein. Frauenrechte thematisiert sie auch als Gastmoderatorin bei der Radiosendung „Ñukanchi Shimi" (deutsch: „Unsere Stimme"), in der sie die Sendereihe „Mädchenbriefe" mitmoderiert. Die Beiträge über die Lebensgeschichten junger Mädchen werden freitags auf Radio Cotopaxi ausgestrahlt. „Wenn ich im Radio spreche, bin ich nicht nur stolz auf mich selbst, sondern auch auf diejenigen, die mir über das Radio zuhören", erzählt sie. „Ich habe das Gefühl, dass es mir und anderen hilft, sich der Realität, in der wir leben, bewusst zu werden." Sie wisse, dass sie all die Mädchen, Jugendlichen und Frauen vertrete, die von der Gesellschaft zum Schweigen gebracht und ausgegrenzt werden. „Das Sprechen hilft mir, meine Ängste zu verlieren."
Yadiras Geschichte ist deshalb eine so besondere, weil sie in einem der ärmsten Länder Lateinamerikas spielt. Fast 14 Prozent der ecuadorianischen Landbevölkerung haben weniger als 47 Dollar zur Verfügung – im Monat. In den Städten Ecuadors liegt die Quote bei rund zwei Prozent. Kinderarbeit zählt zu den größten sozialen Problemen in Ecuador. Bereits Siebenjährige verdienen mit dem Verkauf von Feuerzeugen und Kaugummis ein paar Cent auf der Straße.
Mehr als 17.000 Kilometer weiter westlich auf der anderen Seite des Pazifiks sind Armut und Bildungshindernisse ebenfalls eng miteinander verknüpft. Kinder und Jugendliche aus abgelegenen Gemeinden in Indonesien haben seltener Zugang zu der nötigen Technologie, um dem Schulunterricht von zu Hause aus zu folgen. Da es nur begrenzt Materialien und Infrastruktur gibt, sind Lernende dort oft stark benachteiligt. Die meisten Kinder der Region haben keinen Zugang zum Internet. Auch die 15-jährige Yusti kann ein Lied davon singen. Die Schülerin lebt in einem Dorf in Ost-Nusa Tenggara, einer Provinz bestehend aus 550 kleineren Inseln. Yusti hat dort keinen Zugang zu einer stabilen Telefon- oder Internetverbindung.
Minderjährige Mütter sterben öfter bei der Geburt
Als im Frühjahr 2020 die Ankündigung kam, dass die Schülerinnen und Schüler von zu Hause aus lernen müssen, hätten die Kinder Hausaufgaben in den verschiedenen Fächern bekommen. Bei der Schulöffnung sollten sie dann wieder eingesammelt werden, erinnert sich Yusti. „Es gab keine Diskussionen im Klassenverbund mehr, so wie das vorher war." Es wurde ihr langweilig daheim. Ein Großteil der Erwachsenen in ihrem Dorf hat die Schule vorzeitig abgebrochen. Viele Eltern haben keine ausreichenden Kenntnisse für das Homeschooling ihres Nachwuchses. „Meine Eltern haben nur einen Grundschulabschluss, also muss ich mich zu Hause selbst unterrichten und Notizen benutzen, die ich aus vorherigen Unterrichtsstunden noch habe", erzählt die 15-jährige Indonesierin.
Die finanzielle Not von Familien in ärmeren Ländern ist seit der Corona-Krise so groß, dass mehrere Kinderrechtsorganisationen schon vor einem rasanten Anstieg von Kinderehen warnen. Diese Sorge hat auch die Sprecherin von Plan International Deutschland. „Was wir beobachten, ist, dass Mädchen jetzt viel häufiger und jünger verheiratet werden", so Kathrin Hartkopf. „Eltern sehen darin auch eine Möglichkeit, aus ihrer jetzigen, viel schwierigeren Lage herauszukommen, einen Ausweg zu finden." Die Vereinten Nationen schätzten, dass 2,5 Millionen mehr Mädchen von Frühverheiratung bedroht sein würden, sagt sie. Andere Organisationen gehen sogar von einem Anstieg im zweistelligen Millionenbereich aus.
„Eine frühe Ehe bedeutet das plötzliche Ende der Kindheit und eine Verletzung der Kinderrechte", sagt denn auch die gerade aus privaten Gründen zurückgetretene Unicef-Exekutivdirektorin Henrietta Fore. Die Mädchen werden durch die Frühehe oft nicht nur von Bildung, sondern auch von sozialen Kontakten und Hilfsangeboten abgeschnitten. Zudem laufen sie Gefahr, Opfer häuslicher Gewalt zu werden. Oder – wohl die häufigste Konsequenz – die minderjährigen Mädchen werden zu früh und ungeplant Mutter. Daraus resultieren oft kompliziertere Schwangerschaften und Geburten, viele Todgeburten und eine höhere Säuglingssterblichkeit. Und nicht zuletzt sterben auch mehr Teenager-Mütter als ältere Frauen während oder nach der Geburt ihres Babys.
Bei Plan International versucht man, der Tendenz der Frühehen entgegenzusteuern. In den von der Organisation betreuten Regionen wurden Helplines eingerichtet. „In allen Ländern haben wir Mädchen-Clubs installiert, die während der Corona-Zeit auch digital stattfinden", sagt Kathrin Hartkopf. Wahrscheinlich ist das ein Tropfen auf den heißen Stein, besonders in ländlichen Gegenden mit schlechter Netzanbindung. Aber es ist immerhin etwas.