Die Violinvirtuosin Lisa Batiashvili gehört zu den bedeutendsten jungen Künstlerpersönlichkeiten von internationalem Renommee. Das neue Album der 33-jährigen Wahlmünchnerin heißt „Secret Love Letters“.
Frau Batiashvili, Sie erkunden auf „Secret Love Letters“ einige hochromantische Musikstücke von Debussy, Chausson, Franck und Szymanowski. Wie kamen Sie auf diese Idee?
Zuerst einmal hat Karol Szymanowskis Violinkonzert Nr. 1 mich dazu inspiriert, dieses Album aufzunehmen. Ich habe mich vor vier Jahren in diese unglaublichen Farben, das Leidenschaftliche, Geheimnisvolle und Weibliche, kurzum diese Explosion an Emotionen verliebt. Szymanowski war viel auf Reisen und hat sich für die verschiedensten Kulturen interessiert. Sein Violinkonzert empfinde ich als ein sehr poetisches Werk, und auch Ernest Chaussons „Poème“ erzählt eine Liebesgeschichte. Und so kam ich auf die Idee, diese Art von Musik aufzunehmen. Mir tat es auch gut, in dieser Zeit einmal der Liebe, dem Menschlichen und dem Unausgesprochenen ein Album zu widmen. Man vergisst manchmal, dass dies vor allem für Kulturschaffende die größte Inspiration überhaupt ist.
Das Herzstück von „Secret Love Letters“ ist das Violinkonzert Nr. 1. Karol Szymanowski hat es im Jahr 1916 dem in Odessa geborenen Geiger Paul Kochanski gewidmet, der in den USA lebte. War dieses Konzert ein Liebesbrief an Kochanski?
Ja, das sagt man. Szymanowski hat seine Homosexualität erst sehr spät öffentlich gemacht. Das war damals und ist heute in vielen Ländern Osteuropas noch ein Tabuthema. In seiner Musik drückt sich das Ungesagte auf leidenschaftliche Weise aus. Das macht sie so besonders. Der Geiger Paul Kochanski war für Szymanowski die Inspiration, dieses Konzert zu schreiben. Er hat dem Komponisten dabei geholfen, sein Werk so geigerisch wie möglich zu gestalten.
Szymanowskis Komposition gilt als eines der ersten modernen Violinkonzerte; es steht außerhalb der traditionellen Tonalität und der romantischen Ästhetik. Welche spieltechnischen Schwierigkeiten stecken in diesem Stück?
Ein großer Teil des Konzertes ist für eine hohe Stimmlage geschrieben. Das Singende ist für mich am schönsten. Es ist aber nicht einfach zu spielen, weil man ein sehr großes Orchester im Rücken hat. Man muss da drüberschweben können, was eine Herausforderung ist. Das Konzert ist sehr erzählerisch, weshalb es eigentlich nicht schwer ist, da reinzukommen und sich von der Musik mitnehmen zu lassen. Es ist sowohl für den Spieler als auch den Zuhörer ein ziemlich überraschendes Werk, weil es sehr sinfonisch klingt. Szymanowskis filigrane und durchsichtige Musik hat viele Facetten, und man kann nicht genau definieren, was ihn am meisten beeinflusst hat. Die Musik hat viel von Wagner, Debussy, Franck und Fauré. Es ist eines der ersten Werke mit atonalen Elementen. Es markiert die Zeitenwende zwischen Romantik und Moderne.
Sie spielen Musik, die von verbotener Liebe erzählt. Steckt diese voller Schmerz und Verzweiflung?
Absolut. Die Liebe nimmt im Leben meist eine andere Wendung als erwartet. Deshalb sind die Geschichten von Komponisten in den letzten Jahrhunderten oftmals unlogisch. In ihnen verstecken sich unerfüllte und geheime Liebe.
Dazu kommt, dass das Violinkonzert Nr. 1 während des Ersten Weltkriegs in der Ukraine geschrieben und im November 1922 in Warschau uraufgeführt wurde.
Dass wir es ausgerechnet jetzt im großen Krieg aufgenommen haben, ist fast ein Zufall. Aber eigentlich herrscht in der Ukraine schon seit Jahren Krieg. Nicht nur Paul Kochanski, auch viele andere wichtige Künstler stammen aus Odessa, die damals im Namen der Sowjetunion gespielt haben. Genau diese Orte in der Ukraine sind jetzt in Gefahr, zerstört zu werden. Man kann einfach nur hoffen, dass dieser Wahnsinn irgendwann aufhört und zumindest die wichtigen kulturellen Orte für unsere Geschichte erhalten bleiben.
Die ukrainische Kultur steht für die Identität der Nation. Daher gehört es zum Kalkül der russischen Aggressoren, sie auszulöschen. Ist dieser perfide Plan bisher in irgendeiner Weise aufgegangen?
Ich glaube, genau das Gegenteil passiert. Ich bin mir sicher, dass die Menschen in der Ukraine diesen Fehler Putin und seiner ganzen Regierung nie verzeihen werden. Er wird auch Konsequenzen haben. Die Brüderlichkeit, die Putin sich hinter dieser ganzen Geschichte vorgestellt hat, ist eigentlich total krankhaft. Du bringst ja deinen Bruder nicht um, wenn er sagt, er möchte unabhängig von dir leben. Die Ukrainer fühlen sich seit Jahrhunderten unterdrückt und gehen jetzt aufs Ganze, um dem ein Ende zu setzen. Dadurch gewinnen sie an Identität, weil die Welt sich über ihr Land und ihre Kultur viel bewusster wird.
Die Lisa Batiashvili Stiftung vergibt Zuschüsse direkt an Musiker, von denen viele zu den besten Orchestern, Ensembles und Konservatorien der Ukraine gehören. Können ukrainische Musiker ihren Beruf derzeit überhaupt noch ausüben?
Das ist natürlich ganz unterschiedlich. In diesem Notfall haben wir über unsere ukrainischen Freunde in Europa und Amerika ein Netzwerk geschaffen, das es uns ermöglicht, den Menschen direkt vor Ort mit Geld zu helfen. Zum Beispiel ermöglichen wir mittlerweile über 130 Musiklehrern oder Orchestermitgliedern in der Ukraine Stipendien. Wir wollen auch weiterhin junge Talente langfristig in unsere Stiftung aufnehmen. In dieser Situation muss man einfach handeln.
Wie denken Sie über den Boykott russischer Künstler und Kultur im Westen?
Das ist eine generelle Frage. Wir realisieren gerade, dass Putin sehr viele Unterstützer hat in seinem Land. Das ist ein großes Problem. Wir müssen ein klares Zeichen geben, dass das nicht akzeptabel ist. Und die Menschen in Russland auch. Wer sonst als sie kann irgendetwas verändern? Wir können diese Verantwortung nicht auf uns nehmen. Diese Botschaft ist auch wichtig für diejenigen Russen, die ihr Land bereits verlassen haben, weil sie auch unter diesem Krieg leiden. Sie profitieren ja vom Westen. Heutzutage hat man keine andere Wahl als die Wahrheit zu sagen und der Realität ins Auge zu sehen.
Russische Soldatenmütter und -großmütter könnten theoretisch viel tun, um diesen Krieg zu beenden.
Das würde der gesunde Menschenverstand verlangen. Ich frage mich, wieso das noch nicht passiert ist, weil schon so viele junge Leute gestorben sind – für nichts. Wirklich grundlos. Dass die Menschen in Russland das hinnehmen, kann ich nicht verstehen. Dass die Ukrainer selbst sterben, akzeptieren sie, weil sie ihr Land vor den Russen beschützen müssen. Aber warum stirbt ein Kind, ein russischer Soldat, der Zivilisten angreift? Das macht ja überhaupt keinen Sinn. Deshalb hoffe ich, dass sich in Russland bald etwas verändert.
Spüren Sie momentan ganz besonders, dass Kultur durchaus einen Beitrag leisten kann zu einer friedvolleren Welt?
Wir Künstler sind nicht nur dafür da, dass wir auf die Bühne gehen, etwas spielen und dann wieder abtreten. Und dass alles andere uns nicht betrifft. Wir haben wirklich etwas mit der Gesellschaft zu tun, wir haben auch etwas zu sagen. Es ist ein Luxus, ein Künstler sein zu dürfen. Das ist ein Bereich, der geschützt ist und eigentlich nur über das Schöne spricht. Aber wir müssen auch die Verantwortung auf uns nehmen und Menschen etwas mitteilen. Denn sie hören uns ja zu. Wir dürfen den lauten Extremisten nicht den ganzen Platz überlassen, auch wir müssen einen Einfluss auf die Gesellschaft nehmen.
Mögen Sie eigentlich auch Pop- und Rockmusik?
Ja natürlich. Ich liebe Jazz und habe Michael Jackson auf seiner letzten Tournee live erlebt. Auch im Pop gibt es geniale Musiker. Gute Musik ist einfach gute Musik, egal ob sie von Mozart oder Charlie Chaplin geschrieben wurde.