Zwar mausert sich das Deutschlandticket bisher zu einem Erfolgsmodell. Noch aber muss die örtliche Nahverkehrs-Infrastruktur beim Fahrgastaufkommen mithalten. Dort stecken die meisten Probleme.
Der Bundesverkehrsminister spricht von „ermutigenden Zahlen“. Da dürfte Volker Wissing (FDP) noch untertreiben: Im „Bericht aus Berlin“ war von zwei Millionen verkauften Deutschlandtickets die Rede – an Fahrgäste, die zuvor kein ÖPNV-Ticket oder -Abo hatten. Das 49-Euro-Ticket mausert sich zu einem Erfolg. Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen spricht sogar von sieben Millionen Tickets, miteingerechnet sind hier die umgetauschten Vorgänger-Abos der jeweiligen Verkehrsunternehmen.
Nun muss sich das Ticket im Alltag bewähren. Der Flaschenhals bleibt der Ausbau der ÖPNV-Infrastruktur im Land, und dieser Flaschenhals ist teuer. Derzeit bezuschusst die Bundesregierung den von den Ländern bereitgestellten Verkehr mit bis zu 9,4 Milliarden Euro pro Jahr, um das Angebot aufrechtzuerhalten. Um das gestiegene Interesse am Nahverkehr aufzufangen, Klimaziele zu erreichen, ihn überhaupt zukunftsfest aufzustellen, müsste die Infrastruktur aufgestockt werden: mehr Busse, mehr Waggons, mehr Personal. Schon an Letzterem fehlt es: Nach Angaben des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen musste die Hälfte der Unternehmen ihren Betrieb einschränken, weil zum Beispiel Busfahrerinnen und Busfahrer fehlen. Die Bahn will 2023 nach eigenen Angaben 25.000 neue Arbeitskräfte einstellen, darunter 2.400 Lokführerinnen und Lokführer – und dies trotz angespannter Fachkräftesituation.
Mindeststandards gefordert
Greenpeace hat zum Start des Tickets ein 15-Punkte-Sofortprogramm vorgeschlagen, um den ÖPNV zu stärken. Eine der zentralen Forderungen: Der öffentliche Nahverkehr solle Mindeststandards entsprechen. Diese gibt es, gesetzlich verankert, bislang nur in Rheinland-Pfalz seit 2021. Ihr Ziel sei es, vor allem die Finanzierung sicherzustellen, indem es den ÖPNV zu einer Pflichtaufgabe der Kommunen aufwertet, für die diese wiederum Zuschüsse vom Land erhalten müssen. Nach wie vor ist es deutschlandweit überwiegend eine freiwillige Leistung der Kommunen den Nahverkehr bereitzustellen. Welche Standards dies sind, will die Landesregierung in Mainz in diesem Jahr zusammen mit den Kommunen und Nutzergruppen beraten. Den Nahverkehr zur Pflichtaufgabe der Kommunen zu machen, bringt jedoch nicht automatisch mehr Geld. Gleichzeitig muss die Effizienz, die bedarfsgerechte Taktung, besser werden, so das Greenpeace-Papier – eine ambitionierte Aufgabe. Aber steigen die Menschen dem Klima zuliebe öfter in einen Bus ein, wenn es ihn gibt und er öfter fährt?
Nach Ansicht des Sachverständigenrates für Umweltfragen, eines Beratergremiums der Bundesregierung, sollte die Politik umweltfreundliches Verhalten nicht nur erleichtern und fördern, sondern auch einfordern, heißt es in einem kürzlich veröffentlichten Sondergutachten des Rates. Zum Beispiel im ÖPNV: „Beispielsweise fördert eine städtische Mobilitätswende, die den Fokus auf ÖPNV sowie Fuß- und Radverkehr setzt, auch die Gesundheit und Lebensqualität, da Menschen sich mehr bewegen und Luftverschmutzung sowie Lärm reduziert werden“, argumentieren die Experten. Der Expertenrat betont dennoch: Bei der Entscheidung für oder gegen ein umweltfreundliches Verhalten spielen unter anderem persönliche Routinen, Normen, Emotionen und Wissen eine Rolle. Deshalb müssten auch Anreize für umweltfreundliches Verhalten geschaffen werden. „Dabei können Infrastrukturen neu geschaffen oder verbessert, Fördermittel bereitgestellt, Preisanreize gesetzt oder auch Ge- und Verbote ausgesprochen werden.“
Ohne Smartphone teils unmöglich
Hinzu kommen Probleme in der Digitalisierung des Nahverkehrs. Die von einigen Fahrgästen beklagten Schwierigkeiten bei Bestellung und Versand des neuen Deutschlandtickets zeigen aus Sicht von Verkehrsminister Volker Wissing Defizite „im Vertrieb“ auf, so der Minister. Gleichzeitig betonte er, diese Schwierigkeiten seien keineswegs überall aufgetreten. Ihm sei es wichtig, „dass wir diese veralteten Strukturen jetzt nicht einfach in die Zukunft fortschreiben und uns schönreden, so nach dem Motto „Ja, das Papier-Ticket hat sich doch so bewährt, das ist doch wunderbar“, sagte Wissing. „Wir sehen ja gerade, was für Probleme es bereitet.“ „Das Problem war uns vorher bekannt. Wir benötigen in nächster Zeit bis zu 30 Millionen Chipkarten für den deutschen ÖPNV. Da kommt es angesichts der Halbleiterkrise, der hohen Chip-Nachfrage aus vielen Branchen und des Kriegs in der Ukraine zwangsläufig zu Verzögerungen bei der Lieferung“, sagte VDV-Präsident Wortmann.
Die Sozialverband VdK indes bemängelt, dass gerade das digitale Deutschlandticket etliche Menschen von dessen Zugang ausschließt. „Wir erhalten zahlreiche Rückmeldungen von Menschen, die verärgert sind, weil sie das Ticket weder als Chipkarte noch als Ausdruck nutzen können“, sagt VdK-Präsidentin Verena Bentele. Viele Verkehrsverbünde verkaufen das Ticket lediglich als digitales Ticket über das Smartphone. Das betrifft viele ältere Menschen, aber auch Menschen mit Behinderung oder Menschen, die sich kein Smartphone leisten können. Sie fühlten sich von der Nutzung ausgeschlossen und zunehmend an den Rand gedrängt, weil ein Smartphone in immer mehr Lebensbereichen als selbstverständlich vorausgesetzt werde, so die Verbandschefin. „Eine einfache und pragmatische Lösung wären Papiertickets mit aufgedrucktem QR-Code.“ Dies hätte auch die Bundesregierung als Übergangslösung angekündigt, was aber nicht alle Verkehrsverbünde zur Verfügung gestellt hatten.
Viele Neukunden in Berliner Region
In den Bundesländern Berlin und Brandenburg hingegen bieten die Verkehrsverbünde immerhin zwei Möglichkeiten an: Entweder über die Chipkarte oder über das digitale Ticket auf dem Smartphone. Aufwendig könnte es für all jene Berlinerinnen und Berliner werden, die Abonnenten des bisher gültigen 29-Euro-Tickets waren. Wer nicht zeitnah auf ein Schreiben der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) reagiert hatte, hatte das Nachsehen im Mai. Dann wandelte sich das bisherige 29-Euro-Ticket automatisch von einem Monat zum nächsten in ein Umwelt-Ticket um. Das kostet die Abonnenten mit 66,90 Euro nicht nur mehr als doppelt so viel, sondern ist auch lediglich auf Berlin begrenzt. Damit wurden auch in der Hauptstadt all diejenigen übervorteilt, die entweder gar kein Smartphone hatten oder die Handy-App, aus welchen Gründen auch immer, nicht nutzen wollten. „Mehrfache Anfragen per E-Mail, mein Abo doch bitte auf das Deutschlandticket umzustellen, bleiben beantwortet, und das schon seit mittlerweile mehr als vier Wochen“, beklagt eine Kundin. Stattdessen seien von ihrem Konto 66,90 anstatt – wie Ende April beantragt – 49 Euro abgebucht worden. Bei den Verkehrsbetrieben in der Region Berlin-Brandenburg gibt man sich insgesamt zufrieden: „Die Zahl der Abonnenten, die das Deutschlandticket in Berlin und Brandenburg nutzen, hat die 650.000-Marke überschritten. Wir freuen uns auch über die rund 100.000 Neukunden im Nahverkehr“, sagt Ute Bonde, Chefin des Verkehrsverbundes Berlin-Brandenburg VBB. Die schwarz-rote Koalition in der Hauptstadt strebt an, das Ende April ausgelaufene 29-Euro-Ticket dauerhaft anbieten zu können. Konkrete Pläne, wie das umgesetzt werden soll, gibt liegen aber noch nicht vor.