Die Verkehrswende ist in aller Munde. Gefordert wird mehr Ökologie, Nachhaltigkeit und eine neue Umverteilung des öffentlichen Straßenraums. Für die sogenannte sanfte Mobilität scheint das Fahrrad das ideale Verkehrsmittel zu sein. Für Entspannung sorgt es jedoch nicht immer.
Mit 25 Sachen rast der stolze Papa direkt an den Hauseingängen vorbei. Die Kinder sitzen sicher vor ihm in einem massiven hölzernen Kasten. Aus einem Lautsprecher dröhnt fröhliche Musik. Dass er mit dem Lastenfahrrad andere Menschen auf dem Gehsteig verletzen könnte, auf diese Idee kommt der fürsorgliche Vater allerdings nicht. Solche oder ähnliche Szenen sind jeden Tag in Deutschland zu beobachten. So wurde kürzlich im Berliner Szene-Bezirk Prenzlauer Berg ein 74-Jähriger, der mit seinem Rollator aus dem Haus trat, durch einen unbekannten Radfahrer, der anschließend Fahrerflucht beging, über den Haufen gefahren und musste im Krankenhaus behandelt werden.
Der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Verkehrspsychologie (DGVP) Wolfgang Fastenmeier attestiert Radfahrern die sogenannte „Umwege-Empfindlichkeit“. Wenn Ampeln oder Bürgersteige „im Weg“ seien, würden diese einfach ignoriert. Eine gewisse moralische Verrohung in der Gesellschaft mache eben auch vor dem Verkehr nicht halt, so der renommierte Verkehrspsychologe.
Völlig unzureichende Fahrradinfrastruktur
Radfahrer gefährden nicht nur andere, sie selbst leben auch gefährlich. Der Allgemeine Deutsche Fahrrad-Club (ADFC) appelliert zwar an alle Verkehrsteilnehmer, sich rücksichtsvoll zu verhalten. Die ADFC-Bundesvorsitzende Rebecca Peters dagegen sieht das Problem vor allem in der „völlig unzureichenden Fahrradinfrastruktur“. Rebecca Peters: „Die Radwege sind in den vergangenen Jahrzehnten mit dem steigenden Bedarf durch immer mehr Fahrräder, E-Bikes und Lastenräder nicht mitgewachsen. Sie sind oft in erbärmlichem Zustand, nicht geschützt oder fehlen ganz.“ Kreuzungen seien meist für den Autoverkehr optimiert und schützten Radfahrende nicht ausreichend. Zügiges und sicheres Vorankommen auf dem Rad sei in Deutschland leider noch immer eine Seltenheit. Der ADFC fordert deshalb einen schnellen und sicheren Ausbau der Radwegenetze und dafür eine grundlegende Reform des Straßenverkehrsgesetzes. Radwege müssten durchgängig, breit und von hoher Qualität sein, damit sie für die verstärkte Nutzung funktionieren. Kreuzungen müssten übersichtlicher gestaltet werden, sodass sich alle Altersgruppen intuitiv darin zurechtfinden und vor dem Autoverkehr besser geschützt sind.
Von solch idealen Fahrbedingungen sind Radler in Deutschland noch weit entfernt. Derzeit müssen sie sich die viel zu schmalen Radwege oder Radstreifen mit immer mehr Zweirädern und Rollern teilen. Und es wird immer schneller gefahren. Zuckelten früher dort noch viele mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von vielleicht zehn bis 15 Stundenkilometern, gelten Radler heute bei einer Geschwindigkeit von 20 Stundenkilometern schon als Spaßbremse. Dank leistungsstarker Pedelecs erleben auch die Unsportlichsten einen Geschwindigkeitsrausch.
Pedelecs, umgangssprachlich E-Bikes, also Fahrräder mit einem elektrischen Hilfsantrieb, unterstützen den Fahrer beim Treten bis zu einer Geschwindigkeit von 25 Stundenkilometern. Rechtlich sind Pedelecs nicht motorisierten Fahrrädern gleichgestellt. Auch wenn viele Modelle gar nicht mehr so aussehen, manche erinnern mit ihren breiten Reifen an Motorräder, Lastenräder an Lkws im Kleinformat. Auch S-Pedelecs mogeln sich unter die Radler. S-Pedelecs erreichen eine Geschwindigkeit von bis zu 45 Stundenkilometern. Sie werden nicht mehr als Fahrräder, sondern als Kleinkrafträder betrachtet und benötigen ein Versicherungskennzeichen und mindestens einen Führerschein der Klasse AM.
Kaufprämien für Cargobikes
Die Bundesregierung hat in Lastenrädern das Potenzial für eine nachhaltige urbane Mobilität erkannt und zahlt noch bis Februar 2024 Kaufprämien für Cargobikes mit und ohne Motor, die fabrikneu sind und jeweils eine Nutzlast von mindestens 120 Kilo aufweisen. Die Höhe der Förderung variiert nach Bundesland. Für Berliner Unternehmen, selbstständig Tätige und Vereine gibt es 1.000 Euro für ein unmotorisiertes Lastenrad und 2.000 Euro für ein Lastenrad mit Elektromotor, sowie 500 Euro für einen Fahrradanhänger. Im Saarland gibt es für Lastenfahrräder und Lasten-Pedelecs nur eine maximale Fördersumme von 500 beziehungsweise 1.000 Euro.
Die zunehmende Motorisierung des Radverkehrs bedeutet neue Herausforderungen: Typische Unfallursachen sind auch für E-Bike-Fahrer Konflikte beim Einbiegen oder Kreuzen von Straßen. Pedelec-Unfälle sind häufig schwerwiegender als Unfälle mit Fahrrädern ohne Motor. Grund dafür ist insbesondere das höhere Alter der Verunglückten. Die Altersstruktur zeigt sich auch mit Blick auf die Todesopfer. 2021 starben insgesamt 131 Personen, die mit einem Pedelec unterwegs waren. Nur ein Mensch war unter 25 Jahre alt, 68 Prozent gehörten der Generation 65+ an.
Die größte Gefahr lauert auf Landstraßen. Obwohl sich nur 20 Prozent aller Pedelec- und zehn Prozent aller sonstigen Fahrradunfälle mit Personenschaden dort ereignen, ist die Zahl der Todesopfer mit 63 Prozent der getöteten Pedelec- und 37 Prozent der übrigen Radfahrer außergewöhnlich hoch. Bei Pedelecs ermöglicht außerdem der Elektromotor eine schnellere Beschleunigung und eine höhere Fahrgeschwindigkeit, was die Balance beeinträchtigt. Die Fahrer verlieren häufiger die Kontrolle über das E-Bike.
Auch hier ist wiederum die ältere Generation betroffen. 2021 war mehr als jeder dritte Pedelec-Unfall mit Personenschaden ein sogenannter Alleinunfall (36 Prozent). Das heißt, es waren keine Unfallgegnerinnen und -gegner beteiligt. Bei solchen Unfällen starben 34 Menschen. Aber sie gefährden auch andere. Pedelec-Fahrer fahren im Vergleich zu nicht motorisierten Radlern zu schnell und trinken mehr Alkohol.
Für Roland Stimpel, Vorstand des Fachverbands Fußverkehr Deutschland (Fuss e. V.) ist es ein wachsendes Problem, dass Fahrräder immer größer und schneller werden. „Es gibt inzwischen sieben Meter lange Lastenräder und Elektroräder, die mit etwas Treten 50 Stundenkilometer fahren.“ Diese Räder dürften fast alles, was Fahrräder dürfen – zum Beispiel in Parks fahren und auf Gehwegen stehen. Denn derzeit heißt alles „Fahrrad“, was mindestens zu einem kleinen Teil mit Körperkraft betrieben wird, auch wenn dieser Teil nur noch symbolisch ist. Hier brauche es andere Gesetze und Vorschriften.
Die Unfallzahlen scheinen das zu unterstreichen. Laut Statistischem Bundesamt war von den im Jahr 2021 insgesamt 325.691 im Straßenverkehr Verletzten oder Getöteten jeder Vierte mit einem Fahrrad mit oder ohne Hilfsmotor unterwegs. E-Bike-Unfälle nehmen besonders stark zu. Im Jahr 2014, dem ersten Jahr, in dem in der polizeilichen Unfallanzeige bundesweit zwischen Fahrrädern ohne Hilfsmotor und Pedelecs unterschieden wurde, meldete die Polizei 2.245 Pedelec-Unfälle mit Personenschaden, 2021 waren es bereits 17.285. Bei nicht motorisierten Fahrrädern ist die Zahl der Unfälle mit Personenschaden dagegen von 2014 bis 2021 von 76.643 auf 67.931 gesunken.
Die ADFC-Bundesvorsitzende Rebecca Peters klagt: „Bisher kann man einen Radweg nur einrichten, wenn es schon Tote und Verletzte gegeben hat.“ Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) habe sich vorgenommen, Deutschland bis 2030 zum Fahrradland zu machen – mit flächendeckenden Radwegenetzen und attraktiven Bedingungen zum Fahrradfahren für alle. Der Fehler sei nur: „Das deutsche Straßenverkehrsgesetz (StVG) verhindert den dafür notwendigen Schnell-Ausbau der Radwegenetze.“ Und Kommunen bräuchten die Möglichkeit, ohne Bürokratiemonster Zebrastreifen, Tempo 30 und verkehrsberuhigte Bereiche einzurichten. Dafür sei eine grundlegende Neuausrichtung des Straßenverkehrsgesetzes nötig. Rebecca Peters: „Wir fordern vom Bundesverkehrsminister, den Klimaschutz und die nachhaltige Stadtentwicklung als gleichrangige Ziele in das StVG aufzunehmen und damit die Weichen für das Fahrradland Deutschland endlich richtig zu stellen.“
Bald mehr E-Bikes als Fahrräder
Bei der Bevölkerung wird indes das Radfahren immer beliebter. Mit 82,8 Millionen Rädern verfügt statistisch gesehen fast jeder Mensch in Deutschland über ein Fahrrad oder E-Bike. Und der Anteil der E-Bikes im Verkauf steigt weiter. 2022 herrschte in Deutschland fast Gleichstand zwischen Fahrrädern und E-Bikes. 2,4 Millionen verkaufte Fahrräder (52 Prozent) gegenüber 2,2 Millionen verkauften E-Bikes (48 Prozent). Schon deutlich mehr als zehn Millionen E-Bikes fahren auf Deutschlands Straßen. Der Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) geht davon aus, dass 2023 erstmals mehr E-Bikes als Fahrräder in Deutschland verkauft werden. Eine Marktsättigung ist längst nicht erreicht.
Roland Stimpel von Fuss e. V. macht es Sorgen, dass Fahrräder mittlerweile in Räumen unterwegs sind, die vom Auto weitgehend verschont geblieben sind: auf Gehwegen und Plätzen, in Fußgängerstraßen, Parks und Wäldern. „Egal ob sie legal oder illegal dort sind – sie erzwingen Aufmerksamkeit und Anspannung, machen das Gehen unsicherer und vielen Menschen Angst, vor allem Älteren, Eltern von kleineren Kindern und Menschen mit Behinderungen.“ In Berlin würden etwa doppelt so viele Wege zu Fuß zurückgelegt wie mit dem Rad. Gehende seien die Mehrheit. Sie alle schonten ihre Umwelt, täten etwas für ihre Gesundheit und belebten die Stadt. Wer zu Fuß geht, sollte daher nicht behindert werden, sondern Vorrang genießen und vor Unfällen geschützt werden, so Stimpel.
Zu den Unfallursachen bei PedelecFahrern oder Fahrern von Rädern ohne Hilfsmotor, die in einen Unfall mit Personenschaden verwickelt sind, zählt die falsche Straßenbenutzung. Darunter fällt zum Beispiel das Fahren auf dem Gehweg oder das Befahren einer Einbahnstraße in falscher Richtung. 2021 gab es immerhin 600 Pedelec-Fußgänger-Unfälle. Dabei wurden 351 Fußgänger verletzt, einer starb.
Der Kampf um den Verkehrsraum hat sich immer weiter in die einst autofreien Zonen ausgedehnt. „Auf Gehwegen und belebten Plätzen hat Radverkehr nichts verloren“, findet Fußgängeraktivist Roland Stimpel. Im Grünen gäbe es oft Reibereien: Spaziergänger wollten sich erholen und entspannen, gingen viel zu zweit und in Gruppen und wollten nicht an den Rand gedrängt werden. „Radfahrer dagegen wollen schnell fahren, und wer im Weg ist, stört.“ Stimpel fordert deshalb „Priorität für die Erholung und Langsamkeit“. Wer unbedingt schnell fahren wolle, könne das auch auf der Straße. Parks seien zum Verweilen da – und nicht dazu, möglichst rasch wieder herauszukommen.
Fuss e. V. lehnt auch Pläne ab, grüne Wege zu verbreitern und zu asphaltieren. „Denn was wie Straße aussieht, wird es auch wie Straße befahren.“ Auch durch geplante Rad-Schnellwege drohe Verdrängung. Trotz aller Kritik ist Roland Stimpel durchaus ein Freund des Fahrrads – sofern es auf der Straße bleibt. „Auf der Fahrbahn ist für uns ein Fahrrad verträglicher als ein Auto. Es ist leise, abgasfrei, braucht weniger Platz, ist langsamer und darum weniger gefährlich.“ Stimpel hat auch Ideen für eine passende Infrastruktur. „Auch wir fordern gute Bedingungen zum Radeln auf Straßen, entweder durch eigene Radwege oder durch niedrigeres Tempo für Kraftfahrzeuge, etwa per Limit bei Tempo 30.“
Zusammenhängende Radverkehrsnetze
Seema Mehta, Pressesprecherin beim Deutscher Verkehrssicherheitsrat (DVR), blickt vertrauensvoll in die Zukunft. Sie glaubt: „Auch ein Pedelec lässt sich genauso sicher und rücksichtsvoll fahren wie ein Fahrrad ohne Tretunterstützung.“ Die Geschwindigkeit müsse immer der gegebenen Infrastruktur angepasst werden. Gleichermaßen sei mit größeren Radwegebreiten und Kurvenradien selbstverständlich ein bequemeres und schnelleres Vorankommen möglich. Die Qualität der Radverkehrsinfrastruktur in deutschen Städten sei sehr unterschiedlich. „Der DVR setzt sich dafür ein, dass in Städten wie auch außerorts zusammenhängende, sichere Radverkehrsnetze geschaffen werden.“ Dazu gehörten ausreichend bemessene Breiten der Radwege. Innerorts müssten insbesondere an Kreuzungen, Einmündungen und Zufahrten einfach begreifbare und für alle Verkehrsteilnehmer klar erkennbare Radverkehrsführungen im Sichtfeld des Kraftfahrzeugverkehrs realisiert werden. Eine Trennung der abbiegenden Kraftfahrzeuge vom geradeaus fahrenden Radverkehr könne an unfallbelasteten Kreuzungen und Einmündungen Konflikte minimieren. Das könne etwa durch zeitversetzte Grünphasen erreicht werden.
Dass das Rad Potenzial für das Fahrzeug der Zukunft hat, da sind sich letztendlich alle Interessengruppen einig. Sogar die Autolobby. Jürgen Grieving, Unternehmenssprecher des Allgemeinen Automobil-Clubs (ADAC): „Immer mehr Menschen steigen regelmäßig auf das Fahrrad um, auch für den Weg zur Arbeit. Denn Radfahren ist gesund und entlastet die Umwelt von Stau, Lärm, Parkplatzproblemen und Abgasen.“ Für die Sicherheit des Radverkehrs müsse aber noch viel getan werden. Radwege und Radfahrstreifen müssten dem wachsenden Bedarf angepasst und sicher ausgebaut werden. Bisweilen klingt der ADAC-Sprecher fast wie ein Fahrrad-Aktivist: „Radwege müssen so breit sein, dass sich Radfahrende gegenseitig überholen können und trotzdem ausreichend Abstand zum Autoverkehr bleibt.“ Gerade auf Hauptverkehrsstraßen seien aber ausreichend breite Radwege aus Platzgründen oftmals nicht zu realisieren. Dort biete sich als Alternative häufig eine Führung über parallele Fahrradstraßen durch die Wohngebiete an. Um das Fahrradfahren zu fördern, sollten zudem Hauptrouten ausgeschildert, sichere Abstellanlagen errichtet sowie Schnittstellen mit dem Nahverkehr geschaffen werden. Oberstes Gebot sei aber die gegenseitige Rücksichtnahme aller Verkehrsteilnehmer. Umsichtiges und vorsichtiges Verhalten trage wesentlich zur Verkehrssicherheit aller bei.