Spätestens seit dem Ende der Corona-Pandemie sehen sich die Reisenden der Deutschen Bahn regelmäßig auf harte Proben gestellt: Die Fahrplanzeiten der Fernzüge können nur mehr in seltenen Fällen eingehalten werden.

Verspätung 10, 30, 75 Minuten. „Grund dafür ist eine Störung im Betriebsablauf“, „Grund ist ein Schaden an der Lokomotive“, „Grund sind Personen im Gleis“. Steht man in einem der großen deutschen Knotenbahnhöfe, lässt sich von Bahnsteig zu Bahnsteig die ganze Palette des aktuellen Bahn-Elends erfahren.
Die Bahn ist verspätet, und das so regelmäßig und mitunter so massiv, dass sie zum Tagesgespräch der leidgeprüften Kundschaft geworden ist. Die Zerknirschung beim Anbieter ist nicht zu überhören: „Wir wissen, dass wir unseren Kundinnen und Kunden viel zumuten. Betrieblich war das erste halbe Jahr 2023 alles andere als zufriedenstellend“, sagte der DB-Vorstandsvorsitzende Richard Lutz dieser Tage bei der Präsentation der Halbjahresbilanz. Die Pünktlichkeit des Fernverkehrs liegt weiterhin unter 70 Prozent. Angepeiltes Ziel: 70 Prozent.
Ein bescheidenes Ziel. In Österreich und der Schweiz liegt die Pünktlichkeit jenseits der 90 Prozent. In Japan schaffen es Zugausfälle sogar in die Nachrichten. „Die Bundesländer haben große Macht“, sagt der Verkehrswissenschaftler Bernd Kortschak. Sie sind nämlich die Besteller des Regionalverkehrs. Somit hat dieser Vorrang. „Der Regionalverkehr ist extrem pünktlich“, sagt Kortschak. „Aber wo bleibt der Fernverkehr, wo der Güterverkehr?“
Pünktlichkeit weiter unter 70 Prozent
DB-Chef Lutz führt die chronischen Verspätungen zu 80 Prozent auf die unzureichende Infrastruktur zurück. Die Bausituation an den Strecken verschärfe die Lage zusätzlich. Außerdem würden derzeit rund 480.000 Schwellen ausgetauscht. Das geschieht, weil ein bestimmter Betonschwellentyp als Auslöser des schweren Bahnunglücks vor einem Jahr in Garmisch-Partenkirchen verantwortlich gemacht wird.
Für Verkehrswissenschaftler Kortschak liegen die Ursachen für das gegenwärtige Bahn-Debakel in der Vergangenheit: „Das fängt mit dem damaligen Bahnchef Heinz Dürr an. Er hat die übergreifenden Strukturen der Rad-Schiene-Technik bei der Bahn aufgegeben, nach der Devise: Das kann die Industrie besser.“
Allgemein unbestritten ist, dass große Schuld am heutigen Desaster die Politik mit ihrer einstigen Absicht trägt, die Staatsbahn zu privatisieren. Anfang der 2000er-Jahre wollte die Merkel-Regierung die noch junge aus Bundesbahn und Reichsbahn der DDR entstandene Deutsche Bahn für einen Börsengang herausputzen, was vom damaligen Bahnchef Hartmut Mehdorn willig exekutiert wurde. „Mehdorn hat auf Teufel komm raus alles, was kostet, abgeschafft“, sagt Kortschak.
„Meine Vorgänger haben zugelassen, dass mehr als 70.000 Weichen ausgebaut wurden“, sagte kürzlich auch Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) vor der Auslandspresse. Das hatte gravierende Folgen: Langsame Züge können in Bahnhöfen nicht mehr zur Seite genommen werden, um schnellere Züge passieren zu lassen. Auch ist es dadurch nicht mehr möglich, dass durch so genannten Gleiswechselbetrieb ein schnellerer Zug einen langsameren auf dem Nachbargleis überholen kann.
Deshalb hat Verkehrswissenschaftler Kortschak unter diesen Voraussetzungen wenig Sympathie für Nachtzüge: „Ein Nightjet kippt drei langsame Güterzüge aus dem Fahrplan“, kritisiert er. Gerade in der Nacht sollte aber der Güterverkehr auf der Schiene unbehindert auf dem deutschen Bahnnetz unterwegs sein können. Die Österreichischen Bundesbahnen ÖBB, Nachtzugbetreiber in Deutschland, haben übrigens eine Handvoll Bediensteter eigens dafür abgestellt, täglich Routen für ihre Nachtzüge zu finden, um sie so an den deutschen Baustellen vorbeizuführen, damit die Züge pünktlich an ihren Zielen ankommen.
Zu den bekannten Schwierigkeiten kamen in den letzten Monaten zwei Warnstreiks der Eisenbahner-Gewerkschaft EVG. Sie haben die Bahn 100 Millionen Euro gekostet. Zumindest da zeigt sich die Bahnspitze erleichtert: Weitere Streiks dürften nach der soeben erfolgten Einigung im Schlichtungsverfahren ausgeschlossen sein. Wenngleich, so Lutz zum ausgehandelten Kompromiss: „Wir sind an die Grenze des wirtschaftlich Vertretbaren gegangen.“
Nachfrage auf der Schiene hält an
Die unbefriedigende Leistung der Bahn kommt zur Unzeit, denn gleichzeitig hält die steigende Nachfrage auf der Schiene an: „Im Regional- und Fernverkehr war es ein erfolgreiches Halbjahr“, resümiert Bahnchef Lutz. Die Umsatzsteigerung im Fernverkehr liegt bei 36 Prozent. Mehr als 68 Millionen Fahrgäste waren in den ersten sechs Monaten in den Zügen der Deutschen Bahn unterwegs.
Das Deutschlandticket um 49 Euro bezeichnet Lutz als einen „Renner“, der DB-Regio ein zweistelliges Plus beschert habe. Und auch Minister Wissing zeigt sich von der Netzkarte begeistert, die er als seine Idee reklamiert. Mit bisher elf Millionen verkauften Tickets sei sie „ein Riesenerfolg“.
Darüber, wie sehr sie auch als klimafreundlich durchgehen kann, lässt sich allerdings streiten. Das ist sie nämlich nur dann, wenn Autofahrerinnen und -fahrer auf die Bahn umsteigen. Verkehrsminister Wissing schwärmt von einer Million Neukunden im öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in nur acht Wochen. Wenn Menschen aber Fahrten unternehmen, die sie ohne das Ticket gar nicht angetreten hätten, nützt das dem Klima gar nichts, sondern generiert nur zusätzliche Mobilität.

„Der größte Fehler der Bahnreform 1994 war, dass man aus DB Netz eine AG gemacht hat. Denn damit wurden alle nicht betriebsnotwendigen Infrastrukturen aufgegeben“, kritisiert Bernd Kortschak. Wie schädlich sich die Ausgliederung der Infrastruktur auswirken kann, zeigt das Beispiel Großbritannien. Dort wurden unter der konservativen Regierung von John Major die staatliche British Rail zertrümmert und sowohl Netz wie Betrieb privatisiert.
Die gewinnorientierte Netzgesellschaft investierte in der Folge wenig, die Sicherheit auf den Schienen wurde vernachlässigt. Nachdem es zu einer Reihe schwerer Eisenbahnunfälle gekommen war, ruderte die Politik zurück. Heute verwaltet die Infrastruktur eine nicht gewinnorientierte Gesellschaft.
Und auch in Deutschland hat die Politik das Ruder herumgerissen: Mit Beginn des nächsten Jahres werden DB Netz und DB Station und Services in einer gemeinwohlorientierten AG zusammengefasst. Nach Jahren des Aushungerns der Bahn durch die letzten Bundesregierungen kann sie sich nun eines größeren Geldsegens erfreuen, wenngleich das von der autofreundlichen FDP geführte Verkehrsministerium darauf bedacht ist, dass die Straße ebensolche Wohltaten erhält.
Nächstes Jahr wird zudem mit der Generalsanierung des einst unter dem damaligen Bahnchef Mehdorn für den angepeilten Börsengang massiv rückgebauten und lange Zeit vernachlässigten Netzes begonnen. Und zwar mit Radikalmaßnahmen wie Gesamtsperren ganzer Abschnitte, die dann komplett saniert werden. Begonnen wird mit der Riedbahn zwischen Frankfurt am Main und Mannheim, die ab Juli 2024 für fünf Monate nicht befahren wird. Bis dahin müssen Bypässe für den Umleitungsverkehr ertüchtigt und 200 Autobusse mit 400 Buslenkern für den Schienenersatzverkehr organisiert werden.
„Dann wird es auch wieder Weichen und Gleiswechselbetrieb geben“, verspricht der Bundesverkehrsminister. Es wird aber noch dauern die politischen Fehler der Vergangenheit zu korrigieren. Die Reisenden werden die Verbesserungen erst in einigen Jahren durch erhöhte Pünktlichkeit der Züge zu spüren bekommen.
Bis 2030 soll das Gesamtnetz der Deutschen Bahn nach diesem Muster generalsaniert sein. 40 Korridore wären dann komplett erneuert. „Wir werden dadurch 20 Prozent mehr Kapazität haben, das ist ein Rieseneffekt“, versichert Minister Wissing. „Das ist mehr, als wir mit dem Neubau erzielen.“ Den wird es zusätzlich geben: 1.000 Kilometer Strecke werden neu gebaut.
Kaum noch Flexibilität möglich
Bernd Kortschak hält die Totalsperren, als deren geistiger Vater sich Wissing als sieht, für falsch, aber unumgänglich: „Die Arbeitnehmerschutzbestimmungen sind inzwischen so hoch gezogen, dass man nicht mehr auf dem einen Gleis fahren kann, wenn auf dem anderen gearbeitet wird.“ Er führt als Beispiel die zehntägige Totalsperre der Brennerroute jetzt im August an.
Kortschak rüttelt gern an allgemein unumstrittenen Glaubenssätzen des Eisenbahnwesens. Etwa, wenn er sagt: „Hochgeschwindigkeit ist nur ein sinnloser Verlustbringer.“ Es würde ausreichen, wäre man großflächig mit Tempo 160 statt mit 350 auf ausgewählten Routen unterwegs. Die Deutsche Bahn hat erst kürzlich eine Studie vorgestellt, die bis 2050 ganz Europa mit einem Hochgeschwindigkeitsnetz überzogen sieht und das als Motor suggeriert, besonders für die Staaten im ehemaligen Osten.
Dabei trägt gerade die Hochgeschwindigkeit ebenfalls einen guten Teil zum aktuellen Verspätungsproblem im deutschen Netz bei: 38.000 Kilometer Schiene werden hierzulande im Mischverkehr befahren. Das heißt, auf dem Netz sind die schnellen ICE im Fernverkehr ebenso unterwegs wie lokale S-Bahnen, die an jeder Station halten, oder eher langsame Güterzüge. Frankreich hingegen hat für den Hochgeschwindigkeitsbetrieb ein eigenes TGV-Netz gebaut, während sich in Deutschland Züge aller Gattungen mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten dasselbe Netz teilen müssen. Nahezu ohne Überholmöglichkeiten.

Mit ihrer Vorliebe für Triebwagen stellt sich die Bahn zudem selbst vor Schwierigkeiten: „Die ICE sind die Mörder der Bahn“, sagt Kortschak. Wenn früher der Herd im Speisewagen oder eine Klimaanlage ausgefallen waren, wurde der betroffene Waggon ausgereiht, und der Zug konnte trotzdem auf seine Reise geschickt werden. Heute fällt die gesamte Garnitur aus. Doch die Bahn will Rangieren vermeiden.
Das führt zu einer weiteren Hürde im heutigen Eisenbahnbetrieb: Flexibilität bei Störfällen ist kaum mehr möglich, weil enge Verträge Alternativlösungen verhindern. „Es gibt keine Reserven mehr“, klagt Verkehrswissenschaftler Kortschak. „Der Ausschreibungswettbewerb zwingt dazu, keine Reserven anzubieten.“ So ist vieles bei der Bahn auf Kante genäht. Geht etwas schief, kann das dann massive Folgen auslösen. „Liquidität statt Rentabilität hat schon die DDR umgebracht“, sagt Kortschak.
Und auch wenn Bundesverkehrsminister Wissing verkündet, die Bundesregierung werde mehr Geld in die Bahn als in die Straße investieren, gilt wohl als zentraler Grund für das derzeit unbefriedigende Angebot bei der DB AG: Nicht nur im Vergleich mit ihren Nachbarländern ist die Deutsche Bahn chronisch unterfinanziert.