Der iranischstämmige SPD-Abgeordnete Danial Ilkhanipour aus Hamburg ist Fachsprecher für Europa. FORUM spricht mit ihm über Menschenrechtsverletzungen, den Atom-Deal und warum ein Regimewechsel im Iran auch im europäischen Interesse wäre.

Herr Ilkhanipour, was ist Ihre Motivation, sich für das Thema Menschenrechte im Iran einzusetzen?
Ich habe iranische Wurzeln, deswegen ist mir das Thema nicht ganz fremd. Vor allem aber haben mich der Kampf und der Mut der Mädchen und Frauen unfassbar beeindruckt und inspiriert. Sie machen immer weiter, obwohl sie wissen, was ihnen passiert. Man ist beschämt, wenn man nicht selbst hier aus dem sicheren Ausland alles in die Waagschale wirft, was man hat. Das war ein großer Motivationsaspekt. Ein dritter Aspekt ist, dass es eine Jahrhundertchance ist. Das wird unterschätzt.
Inwiefern ist das eine Jahrhundertchance?
Diese Revolution kann die gesamte Region und auch die Welt ein Stück weit besser und sicherer machen. Das hat auch Einfluss auf Europa und hat geostrategisch und gesellschaftspolitisch unfassbare Möglichkeiten. Dieses Zeitfenster verstreichen zu lassen, empfinde ich persönlich als unerträglich. Und als jemand, der Politik macht, ist das auch unverzeihlich dies nicht zu erkennen und entsprechend zu agieren.
Was meinen Sie konkret mit geopolitischen Chancen?
Entgegen vieler anderer Situationen im Nahen Osten sind die Menschen im Iran pro-westlich eingestellt. Sie kämpfen für Werte, die unseren sehr ähneln: Freiheitsrechte und Demokratie, welche heutzutage nicht mehr selbstverständlich sind. Frauenrechte, Minderheitenrechte, LGBTQ-Rechte, Umweltschutz, all diese Themen spielen da eine große Rolle. Das heißt, es ist eine progressive Revolution. Wir verlieren ja gerade weltweit mehr Demokratien gegenüber Autokratien. Auch Russland und China sind die aktuellen Partner des Regimes. Wir haben eine Zeitenwende, wir haben Konflikte mit Russland, und wir haben schon jetzt eine Art Wettbewerb mit China. Was die Zukunft unserer humanitären Perspektiven anbelangt, stünde ein demokratisches Iran für unsere Werte. Dies hätte übrigens auch Folgewirkungen auf Nachbarstaaten des Iran. Auch dieses Potenzial wird unterschätzt.
„Regime baut auf Geiseldiplomatie“
Aus Ihrer Sicht würde ein demokratischer Iran den Nahen Osten stabilisieren?
Der Iran ist einer der wesentlichen Akteure für die Destabilisierung der Region. Ein demokratisches Iran würde sich auf den Aufbau der eigenen Wirtschaft und des eigenen Staates konzentrieren und weniger auf außenpolitische Experimente in Richtung Syrien, der Hamas, Hisbollah et cetera. Wir sagen ja immer Fluchtursachen bekämpfen – hier wäre eine Gelegenheit für nahezu die gesamte Region.
Der Iran gilt als wichtiger Wirtschaftspartner für Deutschland. Will die deutsche Regierung diesen Partner nicht verprellen und reagiert deshalb wie ein zahnloser Tiger, obgleich Menschenrechtler die Aktionen der islamischen Republik gegenüber der eigenen Bevölkerung als Staatsterrorismus bezeichnen?
Hier kommt es darauf an, ob man taktisch oder strategisch denkt, kurzfristig oder langfristig. Es gibt unfassbar viele moralische und humanistische Argumente, die in den letzten Monaten angeführt wurde. Aber selbst wenn wir die ausblenden und sagen: „Wir haben auch mit anderen Autokraten Beziehungen“, dann wäre es im konkreten Fall nicht zu Ende gedacht.
Ob Europa will oder nicht – diese Revolution findet statt, so oder so. Die Frage ist nur, wie lange sie dauert und wie blutig sie letztendlich wird. Dann werden sich die Iranerinnen und Iraner daran erinnern. Das heißt, selbst aus den egoistischsten und wirtschaftlichen Gründen wäre es klug für Europa, sich richtig zu positionieren.
Zumal derzeit der wirtschaftliche Impact gar nicht so groß ist, weil es ja ohnehin diverse europäische Sanktionen gibt. Deutschland ist wichtig für den Iran, aber der Iran ist nicht so wichtig für Deutschland. Ein prosperierendes Iran, das dann auch vernünftig in der Weltgemeinschaft akzeptiert werden würde, könnte ein Potenzial für Deutschland sein. Das wäre auch wirtschaftlich eine Chance.
Wie weit reicht der Arm des iranischen Geheimdienstes?
Sehr weit, davon gehen wir aus, und davon geht der Verfassungsschutz aus. Dieser hatte unlängst iranischstämmige BürgerInnen gewarnt. Wir haben den Fall hat des deutschen Staatsbürgers (Jamshid Sharmahd, Anm. d. Redaktion), der nicht in den Iran gereist, sondern aus Dubai entführt worden ist. Das heißt, jetzt reicht der iranische Arm weltweit. Man kann überall entführt werden, auch wenn man eine andere Staatsbürgerschaft hat. Aber es gibt auch zahlreiche Fälle, von nicht iranischstämmigen, europäischen BürgerInnen. Das Regime baut auf Geiseldiplomatie und Erpressung. Da ist es egal und völlig willkürlich – unfassbar, dass diese Gefahr ignoriert wird.
Es gibt zudem auch sicherheitspolitische Aspekte. Es gibt Operationen des iranischen Regimes auf europäischen Boden. Wir hatten kürzlich einen Gefangenenaustausch mit einem belgischen Staatsbürger, wo jemand einen Sprengstoffanschlag auf europäischem Boden geplant hatte.
Da wurde der belgische Entwicklungshelfer Olivier Vandecasteele gegen den, wegen Terrorvorwürfen verurteilten, iranischen Diplomaten Assadollah Assadi ausgetauscht.
Genau. Ich bin da ganz bei Helmut Schmidt: Man verhandelt nicht mit Terroristen! Wir haben keine Europa-Strategie gegenüber dem Iran, der willkürlich irgendwelche europäischen Staatsbürger entführen kann. Europa kuscht, gibt Gelder frei, lässt verurteilte Terroristen im Rahmen des Gefangenenaustausches frei. Mit dem einseitigen Deal der Belgier wurden über Nacht Millionen von Menschen gefährdet. Wir haben mit dieser Maßnahme Anreize geschaffen, mit der jeder Europäer, Amerikaner und Kanadier, jeder Bürger der Welt, gefährdet ist. Das passiert, wenn man keine Strategie hat. Der Gefangenenaustausch war vom Regime aus gesteuert. Das sind Aspekte, die sicherheitspolitische Relevanz haben.
„44 Jahre lang falsche Iran-Politik“
Wie sähe denn eine gemeinsame europäische Strategie aus?
Wir dürfen uns nicht gegenseitig ausspielen lassen. Das heißt, es braucht eine Einheitlichkeit, was die Verhandlungsposition anbelangt und was wir letztendlich bei Putin gelernt haben. Wir haben eine Zeitenwende, eine komplette 180-Grad-Wende, was unseren Umgang mit autoritären Regimen belangt. Die Transferleistung, dies auf den Iran zu übersetzen, fehlt allerdings! Wir machen hier die gleichen Fehler und messen mit zweierlei Maß. Da betreiben wir nach wie vor nur Diplomatie, mit der man nur Zeit gewinnen möchte. Vergessen wir nicht, der Iran ist auch ein Akteur im Ukraine-Krieg. Für Putins Angriffe liefert der Iran Drohnen. Auch hier könnten wir dort deutlich klüger und sicherheitsorientierter in unserem eigenen Interesse sein.
Was sähen aus Ihrer Sicht Ihre konkreten Maßnahmen aus?
Maßnahmen, wie ein genereller Abschiebestopp von Iranerinnen und Iranern wären wünschenswert – sind aber nur Symptombekämpfung. Das wesentliche Ziel, was uns zwei Drittel des Weges voranbringen würde, ist die Revolutionsgarden auf die Terrorliste zu setzen. Das muss gemacht werden, weil es ein unfassbar wichtiges Signal liefern würde – Europa meint es ernst – und zudem viele konkrete Folgen hätte. Ansonsten wird das Regime auf Zeit spielen und warten, bis die Proteste aus den Medien sind. Das führt dazu, dass dieses Regime sich letztendlich stabilisiert, weil innerhalb des Systems Leute, die unzufrieden sind, sich nicht trauen sich gegen dieses System zu stellen. Weil sie sonst die nächsten sind, die aufgehängt werden. Dieses Abwarten der deutschen Regierung ist folgerichtig keine neutrale Position, sondern führt de facto zur Stabilisierung des Systems.
Die Terrorlistung ist vergleichbar mit einer Scheidung. Sie zeigt: Europa meint es ernst, es gibt kein Zurück. Das Signal würde zu einem Implodieren des Systems führen. Allerdings wird das gerade nicht gemacht, obwohl es zahlreiche Abgeordnete aufgrund des Drucks gibt, die das wollen.
Woran hapert es, dass die Revolutionsgarden nicht auf die Terrorliste gesetzt werden, wie Sie und einige andere Politiker fordern?
Es gibt widersprüchliche Signale. Es ist so, dass das europäische Parlament gesagt hat, mehrheitlich wollen wir die Revolutionsgarden auf die Terrorliste setzen. Aber die Parlamentarier entscheiden das nicht. Wir brauchen die Außenminister, und die machen da nicht mit. Auch der europäische Außenbeauftragte Borrell, der ein Anhänger des Atom-Deals ist, will das nicht.
Der der EU-Außenbeauftragte ist …
Ja. Dabei werden rechtliche Gründe angeführt. Es soll ein Rechtsgutachten in Europa geben, das aber nicht veröffentlicht wird. Man könnte auch überlegen, warum macht der Bundestag denn kein Gutachten? Warum trifft das schwedische Parlament einen Beschluss, dass die Revolutionsgarden auf die Terrorliste kommen? Warum haben wir das nicht im Bundestag und konkretere Maßnahmen, um dieses Fernziel zu erreichen? Meine These ist, dass es keine juristischen Hürden gibt – das sagen auch diverse Völkerrechtler –, sondern dass der politische Wille derzeit nicht da ist. Gerade weil diese Entscheidung so einen großen Impact hat und erfolgversprechend ist, scheut man sich vor den Folgen und glaubt das „Problem“ verschieben zu können. Es wird wie so oft auf Zeit gespielt in der Hoffnung, dass sich es verläuft, dass man es aussitzen kann. Hier unterschätzen sie die Lage sowie die Iranerinnen und Iraner im In- und Ausland maximal, der Point of no Return schon vorbei ist. Hier verschätzt sich auch Borrell und schadet de facto Europa.
Vor Kurzem wurde ein Todesurteil gegen einen schwedisch-iranischen Staatsbürger vollstreckt. Auch der Deutsch-Iraner Jamshid Sharmahd kann jeden Tag hingerichtet werden. Seine Tochter kritisiert, dass die deutsche Regierung zu wenig unternimmt. Sehen Sie das auch so?
Ich sehe es tatsächlich so, dass Deutschland 44 Jahre lang eine falsche Iranpolitik gemacht hat. Ich sehe erste Bewegungen in die richtige Richtung, die aber bei Weitem nicht ausreichen. Zweitens begreifen wir das große Ganze nicht. Dem Anspruch, den das Auswärtige Amt mit der feministischen Außenpolitik hat, wird es nicht ansatzweise gerecht.
Auch die Deutsch-Iranerin Nahid Taghavi ist inhaftiert. Wissen Sie, wie viele deutsche Staatsbürger noch als politische Gefangene im Iran festgehalten werden?
Damit fängt es schon einmal an, dass die Zahlen nicht genannt werden dürfen. Die Zahl ist nicht ganz klar, aber es ist auf jeden Fall eine zweistellige Zahl. Es gab die Strategie der stillen Diplomatie. Aber die Vergangenheit hat gezeigt, dass sie nicht funktioniert hat, sondern dass sie ein Ansporn für den Iran war, nur noch mehr Geiseln zu nehmen.
„Atomdeal kann nicht mehr funktionieren“
Warum regieren Deutschland und auch Europa so zögerlich auf Aktionen des Irans wie Entführungen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen?

Ich glaube, ein Grund für die Zögerlichkeit von Deutschland und Europa ist die Angst, dass man nicht wieder eine Baustelle im Nahen Osten haben will. Das Gegenteil ist der Fall. Wir haben derzeit eine herausfordernde Flüchtlingssituation in Europa, die unterschiedlich strittig diskutiert wird. Aber von ganz links bis ganz rechts gab es seit 2015 immer den Konsens, dass Fluchtursachen zu bekämpfen die beste aller Optionen wäre. Der Iran als demokratisches Land wäre eine maximale Fluchtursachenbekämpfungsstrategie. Nicht nur wegen weniger Geflüchteten aus dem Iran, sondern wegen weniger Flüchtlingen aus der ganzen Region um Syrien und den Libanon. Auch hier hätte Europa Chancen und sollte sich nicht ins eigene Fleisch schneiden.
Ein zweiter Aspekt ist, dass man das große Ganze nicht sieht. Man ist mit Russland beschäftigt, es ist eine Herausforderung. Man erkennt nicht, dass eine richtige Iranpolitik Teil der Lösung und nicht eine zusätzliche Bürde ist.
Hinzu kommt dass das iranische Regime ganz geschickte Lobbyarbeit macht, und bei den Abgeordneten viel relativiert und gleichzeitig Ängste vor Destabilisierung der Region schürt, die nicht haltbar sind. Hier ist es wichtig, dass die Politik mehr in die Diaspora hineinhört und sich da die Fakten geben lässt. Dann gibt es natürlich noch einen Grund, den alle derzeit ausblenden …
Welcher wäre das?
Der Atomdeal: Europa und Deutschland spielten hier eine große Rolle. Es ist ihr politisches „Baby“. Der Bruch damit schmerzt die „Architekten“ des Deals, die immer noch in den Ministerien sitzen, sehr. Es ist aus europäischer Sicht auch unbequem erkennen zu müssen, dass der einzige Weg den Iran vor einer Atombombe zu bewahren, eben nur ein Regime Change sein kann. Daher wird die Option JCPoA (Wiener Nuklearvereinbarung mit dem Iran, Anm. d. Red.) künstlich am Leben gehalten - in der Hoffnung, dass das Thema aus den Medien verschwindet. Dabei kann so ein Deal nicht mehr funktionieren. Wenn man die Menschenrechtsverletzungen, die Vergewaltigungen von minderjährigen Mädchen als politische Waffe ignorieren würde und sich mit dem Iran an den Verhandlungstisch setzt, würde man die Freiheitsbewegung den Boden unter den Füßen entziehen und die Handlungen des Regimes legitimieren. Vor allem aber wäre sicherheitspolitisch nichts gewonnen. Spätestens seit Trump und der unklaren politischen Lage in den USA kann das Regime spieltheoretisch sich gar nicht an etwaige Deals halten. Sie werden folglich wieder und wieder Wortbruch begehen, bis sie die Atombombe haben. Je früher Europa die Augen vor der Realität öffnet, desto besser. JCPoA ist sicherheitspolitisch keine Option. Die einzige Chance die wir haben, sind Frauen und Männer im Iran, die aufbegehren. Wir sollten ihnen helfen, anstatt ihnen Steine in den Weg zu legen.