In Polen rückt der Richtungswechsel näher. Auf Donald Tusk mit seinem liberalen Regierungsbündnis lasten viele Erwartungen und Hoffnungen, im Land selbst, aber auch in der EU.
Aufatmen in Brüssel: Die Parlamentswahlen in Polen haben gezeigt, dass der Rechtspopulismus in Europa nicht unaufhaltbar ist. Die nationalkonservative PiS um Ministerpräsident Mateusz Morawiecki wurde mit 35,4 Prozent der abgegebenen Stimmen zwar stärkste Partei, aber zum Weiterregieren reicht das nicht. Zwar hat Staatspräsident Andrzej Duda am 6. November dem amtierenden Regierungschef den Auftrag zur Bildung einer neuen Regierung erteilt, das aber war nach Ansicht von Kritikern nur ein post-wahltaktisches Geplänkel.
Die Zeichen stehen also auf Regierungswechsel in Warschau: Der liberalkonservative Oppositionsführer Donald Tusk und seine Bürgerplattform Obywatelska, das neue Wahlbündnis Dritter Weg und die Neue Linke Nowa Lewica verfügen mit 248 Sitzen im polnischen Parlament Sejm über eine satte Mehrheit und haben sich bereits auf einen Koalitionsvertrag geeinigt, der dieser Tage sogar schon veröffentlicht wird. Noch vor Weihnachten soll demnach die neue Regierung in Warschau stehen und Polen wieder näher an die EU heranführen.
Zeichen stehen auf Regierungswechsel
Wird Polen nach acht Jahren nationalkonservativer Politik und als – in der Außenwahrnehmung – Land der Blockaden künftig ein Land der Initiativen in Europa? Darüber diskutierten der Politikwissenschaftler Dr. Hans-Dieter Heumann, Botschafter a. D. und Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, Dr. Monika Sus, Professorin an der Polnischen Akademie der Wissenschaften, und Dr. Landry Charrier, Historiker, Forscher und Leiter der traditionsreichen deutsch-französischen Zeitschrift „Dokumente“, in der ASKO Europa Stiftung in Saarbrücken. Eingeladen hatten zudem die Union-Stiftung und Konrad-Adenauer-Stiftung.
Als einen Sieg der Zivilgesellschaft bezeichnet die Polenkennerin Monika Sus den Ausgang der Wahlen. Mut mache neben der hohen Wahlbeteiligung von 75 Prozent vor allem die Teilnahme vieler junger Menschen und Frauen. Das sei allerdings auch Verpflichtung und Herausforderung zugleich für die neue Regierung, denn im Sommer nächsten Jahres stehen bereits die Europawahlen an. Dem designierten Ministerpräsidenten Tusk muss es also gelingen, innerhalb von sechs Monaten die von der EU zurückgehaltenen 100 Milliarden Euro Hilfsgelder für Polen loszueisen. Viele Kommunen in Polen sind dringend auf frisches Geld aus Brüssel angewiesen. Kompromissbereitschaft und Flexibilität sind von beiden Seiten gefragt, wenn es um die Reformen der EU wie Einstimmigkeitsprinzip oder um die Erweiterung der EU geht. Aber mit Donald Tusk sollte das gelingen, denn er kennt sich auf dem Brüsseler Parkett bestens aus, schließlich war er von 2014 an fünf Jahre EU-Ratspräsident. Vielleicht könnte Brüssel als ein Zeichen des guten Willens schon Anfang nächsten Jahres einen Teil der blockierten Gelder überweisen, wenn die neue Regierung in Polen an der wohl größten Schraube dreht: die Rücknahme der so umstrittenen Justizreformen in Polen. Doch das brauche Zeit, betont Monika Sus, schließlich habe die PiS-Partei viele wichtige Stellen im Justiz-Apparat mit ihren Gefolgsleuten besetzt.
Als ein deutliches Signal an Ungarn und an die Slowakei sieht der Fachmann für Sicherheitspolitik Heumann die Wahlen in Polen. Es sei zwar ein freier, aber unfairer Wahlkampf in Polen gewesen, doch die Polarisierung und das Schüren antideutscher Ressentiments seitens der PiS hätten keinen Erfolg gehabt. Heumann geht auch davon aus, dass es zu einem unkomplizierten Regierungswechsel komme; die Demokratie in Polen sei noch immer stark. Und die von der PiS geforderten Reparationszahlungen von Deutschland würden wohl unter Donald Tusk in der Mottenkiste der Geschichte verschwinden. „Das hat rechtlich gesehen keine Chance und warum sollte sich eine neue Regierung dafür stark machen? Es gibt seit dem Russland-Krieg gegen die Ukraine wichtigere Dinge in Europa zu regeln.“
In der Tat könnte das zu einem Papiertiger verkommene Format „Weimarer Dreieck“ neuen Schwung erfahren, denn die geopolitische Lage hat sich in Europa seit Februar 2022 kolossal gewandelt. Die Zusammenarbeit zwischen Frankreich, Deutschland und Polen könnte nach Ansicht Heumanns unter Aspekten der europäischen Sicherheitspolitik an Fahrt aufnehmen, schließlich vereinen diese drei Länder rund ein Viertel aller europäischen Verteidigungsausgaben. „Polen ist neuer Frontstaat in Europa geworden, was in der alten Weltordnung viele Jahre Deutschland gewesen ist. Niemand weiß genau, wie lange die USA die Ukraine im Kampf gegen Russland in der jetzigen Form weiter unterstützt angesichts des Gaza-Konflikts und der Präsidentschaftswahlen in einem Jahr. Außerdem ist China der größte Rivale der USA. Warum sollte nicht etwa Polen als Frontstaat in dem Weimarer Format die militärische Führung übernehmen oder vielleicht mit Frankreich zusammen. Es muss nicht unbedingt Deutschland sein“, so eine gewagte These Heumanns. Einig sind sich die drei Länder darin, dass es eine sicherheitspolitische Stärkung der Ostflanke braucht, eine europäische Verteidigung auch ohne die USA und dass eine europäische Rüstungsindustrie eine europäische Beschaffung benötigt. „Das Weimarer Dreieck muss jetzt endlich operativ werden“, fordert Heumann.
„Weimarer Dreieck“ als neue Chance für Europa
Dafür müssten Deutschland und Frankreich allerdings über ihren eigenen Schatten springen und Polen als gleichwertigen Partner sehen, betont Landry Charrier. „Das deutsch-französische Tandem hat in Europa trotz aller Schwierigkeiten und Meinungsverschiedenheiten stets den Ton angegeben. Hier müsste ein Umdenken stattfinden.“ Frankreich könnte das sogar besser machen als Deutschland, dessen Verhältnis zu Polen viel stärker belastet sei als das französische. Trotz der schwierigen Beziehungen zwischen Deutschland und Polen und der Instrumentalisierung der Außenpolitik für innerpolitische Zwecke seitens der PiS sieht Monika Sus keine langfristigen Schäden für das Verhältnis beider Staaten. „Dafür haben beide Länder in den 90er Jahren ein belastbares Fundament gelegt, zum Beispiel das deutsch-polnische Jugendwerk nach deutsch-französischem Vorbild oder der Austausch und die Arbeit von Stiftungen und Vereinen.“ Man dürfe zwar jetzt auch keine Wunderdinge von der neuen Regierung erwarten, aber der Ton in der Zusammenarbeit werde sich deutlich verbessern.
Außenpolitisch ziehen die drei Koalitionäre durchaus an einem Strang, aber Unterschiede in der Innenpolitik gebe es durchaus, wie bei den Themen Abtreibung und Zuwanderung. Tusk sollte nicht den Fehler seiner Amtszeit von 2007 bis 2014 als Ministerpräsident Polens wiederholen. Eine kluge Sozialpolitik bleibe wichtig, denn viele PiS-Anhänger hätten gerade davon in der Vergangenheit profitiert, warnt Sus.
Die Tür für Veränderungen in der Europapolitik ist jedenfalls durch den Ausgang der Wahlen ein Stück offener geworden. Jetzt liegt es an den westeuropäischen Ländern, allen voran Deutschland und Frankreich, ihre Haltung zu den Osteuropäern zu überdenken, sollen echte Reformen in Europa vorangebracht werden. Das Selbstverständnis der Politik ist in Polen ein anderes. Aus Fehlern der Vergangenheit lernen, könnte man das umschreiben. Schließlich hat Polen schon immer vor Russland gewarnt, auch wenn Deutschland das zu Zeiten Angela Merkels nicht hören wollte, und selbst der Umgang mit der Migration wurde in Polen stets anders gesehen. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat in seiner Rede am 31. Mai in Bratislava bereits zugegeben: „Wir haben im Umgang mit Russland einen Fehler gemacht.“ Die Betonung liegt hier auf „wir“.