Das Skifliegen übt auch für erfahrene Skispringer eine große Faszination aus. Bei der anstehenden WM in Österreich ist die Weitenjagd wieder eröffnet – allerdings ohne den deutschen Rekordhalter.
Wenn Markus Eisenbichlers Augen eine Skiflug-Schanze erblicken, setzt ein leichtes Kribbeln im ganzen Körper ein. Doch die Vorfreude auf die Weitenjagd ist nichts verglichen mit dem Glücksgefühl, das er dann später in der Luft verspürt. „Beim Fliegen vergesse ich für acht Sekunden einfach alles – jeden Stress, jeden Gedanken. Ich genieße nur das, was gerade passiert, die Geschwindigkeit, die Schwerelosigkeit“, sagte der sechsmalige Weltmeister einmal über die Faszination des Skifliegens: „Es ist so anders als das normale Skispringen, das wir gewohnt sind.“ Für ihn ist es viel besser. „Skifliegen ist fast so gut wie Sex“, verglich Eisenbichler, „einfach ein Gefühl, das nicht zu beschreiben ist. Man hat extrem viele Gedanken im Kopf, kann die aber überhaupt nicht sortieren, ist einfach extrem glücklich.“
Genau so ein Gefühl bräuchte Eisenbichler nun, der frühere Siegspringer ist am sportlichen Tiefpunkt seiner Karriere angekommen. Nachdem er von Bundestrainer Stefan Horngacher aus Leistungsgründen aus dem A-Kader gestrichen worden war, durfte er sich die Vierschanzentournee nur als Zuschauer ansehen. Eine harte, aber offenbar richtige Entscheidung. Denn auch im zweitklassigen Continental Cup war der 32 Jahre alte Bayer mit einem blamablen 47. Platz in Garmisch-Partenkirchen nur ein Schatten früherer Erfolgstage. Wenn nicht noch ein großes Wunder geschieht, hat er damit auch keine Chance mehr auf eine Nominierung zum zweiten Saison-Höhepunkt: der Skiflug-WM vom 26. bis zum 28. Januar in Bad Mitterndorf am Kulm. Das dürfte Eisenbichler besonders schmerzen, denn er gilt als ausgesprochener Skiflug-Experte. Mit zwei Sprüngen auf je 248 Meter hält er immer noch den deutschen Rekord.
Eisenbichlers Absturz sei traurig, findet auch Teamkollege Karl Geiger. Der Olympia-Dritte von 2022 von der Großschanze teilte sich früher auf Weltcup-Reisen ein Zimmer mit Eisenbichler und spielte dann oft Schafkopf mit ihm. „Wir haben viel Kontakt tatsächlich, schreiben immer wieder einiges und telefonieren“, erzählte Geiger: „Man ist nicht nur Zimmerkollege, da entwickelt sich auch eine Freundschaft über die Jahre.“ Menschlich mag Eisenbichler fehlen, sportlich nicht unbedingt. Im bisherigen Winter haben die deutschen Skiadler gezeigt, dass es auch ohne den Ex-Weltmeister geht. Mit Andreas Wellinger (2.), Philipp Raimund (11.), Geiger (14.), Pius Paschke (20.) und Stephan Lehye (21.) landeten gleich fünf DSV-Springer unter den besten 21 der Gesamtwertung der Vierschanzentournee. Eine zufriedenstellende Bilanz – auch wenn es für den Gesamtsieg wieder einmal nicht gereicht hat.
Diesmal fehlten Wellinger auf Platz zwei nur Kleinigkeiten, genau wie 2018. Danach hatten Eisenbichler (2019) und Geiger (2021) als jeweils Zweite knapp den ersten deutschen Triumph beim Prestige-Wettbewerb seit Sven Hannawald 2002 verpasst. Wellinger versprach den Fans, weiter am Ende des Tournee-Fluchs zu arbeiten – und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: „Irgendwann werden wir den Hobel auch noch so knacken, dass der goldene Adler wieder bei uns ist.“ Diesmal sprang der Japaner Ryoyu Kobayashi mit vier zweiten Plätzen etwas konstanter, auch wenn Wellinger in Oberstdorf ein Tagessieg gelang. Bei der Skiflug-WM geht es für den Olympiasieger von 2018 in Pyeongchang also nicht nur um einen Titel, sondern auch um Revanche.
Augenmerk auf Stefan Kraft
„Ich verspreche euch, dass ich bald wieder ganz oben stehe“, sagte Wellinger an die Fans gerichtet nach dem Schlussspringen in Bischofshofen. Auch DSV-Sportdirektor Horst Hüttel kündigte mit Blick auf die Weltmeisterschaft an: „Jetzt kämpfen wir halt weiter, eine andere Chance haben wir nicht.“ Wellinger gilt nicht als so ein talentierter Skiflieger wie Eisenbichler, doch auch seine Bestweite von 245 Metern kann sich sehen lassen. Und auch der 28 Jahre alte Oberbayer liebt den Adrenalin-Kick bei der spektakulären Flugshow. „Das Fliegen ist eine Faszination des Menschen schon seit Anbeginn der Zeit“, sagte er. Aber Wellinger geht auch das Skifliegen eher analytisch an: „Es geht um das sensible Abstimmen. Wann verändert sich was? Wie verändert sich der Wind?“ Andere Athleten denken sicher beim Ablauf weniger und vertrauen eher ihren Instinkten.
Ist das die große Stärke von Ryoyu Kobayashi? Man weiß es nicht, denn der Japaner spricht nur selten mit den Medien und Konkurrenten. Und wenn doch, dann sagt er eigentlich nichts, das hilft, dem Phänomen Kobayashi näherzukommen. Mit seinem dritten Tourneesieg hat er sich endgültig in eine Reihe mit den Größten seines Sports platziert. Erstmals seit dem Finnen Janne Ahonen 1998/99 entschied wieder ein Athlet die Vierschanzentournee ohne einen Tagessieg. Sein knapper Kommentar zu dem Coup? „Ich bin glücklich.“ Auch mit Wellinger redet Kobayashi nicht viel, doch der Deutsche kann zumindest berichten: „Er ist ein sehr, sehr ruhiger und angenehmer Zeitgenosse. Mit ihm kannst du Spaß haben, auch wenn es nur nonverbal ist.“ Für eine sportliche Einschätzung braucht es ohnehin nicht vieler Worte. „Er ist ein verdammt guter Skispringer“, sagte Wellinger über den 27 Jahre alten Olympiasieger von 2022: „Er ist ein hochtalentierter Springer. Er weiß, was zu tun ist.“
Es ist in der Tat verblüffend, wie gut es Kobayashi immer wieder gelingt, rechtzeitig zu den Saison-Höhepunkten topfit zu sein und diese Form dann konstant abzurufen. In der Szene wird gemunkelt, der Japaner sei mental stärker als zum Beispiel Wellinger, der die Erwartungen nach dem euphorischen Sieg zum Tournee-Auftakt in Oberstdorf nicht ganz erfüllen konnte. Doch Bundestrainer Stefan Horngacher widerspricht dem vehement. „Die mentale Stärke von Andi überwiegt die von Ryoyu“, sagte der Österreicher, und er erklärte diese Meinung auch: „Ryoyu hat überhaupt nichts zu tun. Er geht ein bissl hin, macht sein Englisch-Interview, dann geht er heim. Andi hat Tag und Nacht was am Schirm, das ist eine andere Nummer.“
Bei der Skiflug-WM wird das Hauptaugenmerk erneut nicht auf Kobayashi liegen, sondern vor allem auf Stefan Kraft. Beim Heim-Event in Bad Mitterndorf am Kulm erhoffen sich die Österreicher natürlich einen Erfolg ihrer Athleten, und Kraft ist ohne Zweifel der aussichtsreichste Kandidat dafür. Auch wenn er seine Ausnahmeform vom Saisonstart zwischenzeitlich nicht ganz halten konnte. Als Topfavorit gestartet, verpasste er zwar den Tourneesieg, gewann in Bischofshofen aber zumindest das Dreikönigsspringen und sorgte für einen versöhnlichen Abschluss. Nur wenige Kilometer von seinem Geburtsort Schwarzach entfernt ließ Kraft auch Tournee-Gewinner Kobayashi hinter sich und zementierte damit seinen dritten Platz in der Gesamtwertung. „Ich bin nur glücklich. Dafür trainiert man. Das ist pures Adrenalin, Glücksgefühle bis zum Gehtnichtmehr. Der Sieg daheim entschädigt für alles“, sagte der Österreicher freudestrahlend. Für den ganz großen Triumph hätten ihm in Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck „das Quäntchen Glück gefehlt“, meinte er.
„Das ist pures Adrenalin“
Mit seinem sechsten Saisonsieg baute er seine Führung im Gesamtweltcup aus und holte sich reichlich Selbstvertrauen für die Skiflug-WM. „Die WM kommt für mich zur richtigen Zeit“, sagte der 30-Jährige, auch wenn er sogleich einschränkte: „Skifliegen ist wieder etwas ganz anderes.“ Doch auch in dieser Disziplin, wo das Fluggefühl noch wichtiger ist und Mut noch mehr belohnt wird, ist Kraft ein Meister: Seit dem 18. März 2017, als er im norwegischen Vikersund auf dem sogenannten Monsterbakken seine Bretter erst bei 253,5 Meter in den Schnee setzte, ist er Inhaber des offiziellen Weiten-Weltrekords. Wellinger rechnet stark mit seinem Rivalen aus dem Nachbarland: „Krafti ist der beste Skispringer der letzten zehn Jahre. Er ist extrem lange auf einem sehr hohen Niveau unterwegs. Er hat einen Sprungstil, der wenig anfällig ist von den Windbedingungen und von der Schanzengröße her.“ Doch nicht nur Kraft überzeugte bislang aus dem österreichischen Team, mit den rot-weißen Skiadlern ist bei der WM wieder stark zu rechnen. Innsbruck-Sieger Jan Hörl wurde Gesamt-Vierter, Michael Hayböck Sechster, Clemens Aigner landete überraschend auf Platz acht. Das sei eine „super Tournee mit einem super Mannschaftsergebnis“ gewesen, jubelte Nationaltrainer Andreas Widhölzl.
Doch bei der Skiflug-WM werden die Karten neu gemischt. Für fast alle Athleten ist die Umstellung eine Herausforderung, denn nach dem Aus der Anlage im tschechischen Harrachov gibt es nur noch vier Skiflugschanzen, auf denen während des Winters auch nicht trainiert werden darf: in Bad Mitterndorf, in Oberstdorf, im slowenischen Planica und in Vikersund. Nur auf diesen Anlagen kann daher alle zwei Jahre eine Skiflug-WM stattfinden – aber nur für Männer. Die Skispringerinnen um die Olympiazweite Katharina Schmid (ehemals Althaus) dürften im Vorjahr in Vikersund zwar ihren ersten Skiflug-Wettbewerb veranstalten, doch ein WM-Skifliegen ist bei den Frauen vorerst nicht vorgesehen. „Ich glaube nicht, dass das für uns ungesünder ist als für die Männer. Ich kann’s nicht verstehen“, sagte Schmid: „Klar ist der Druck ein bissl höher und die Kräfte, die da wirken, sind extremer. Aber wir trainieren dafür ja jeden Tag, und ich glaube, dass unser Körper das auch aushält.“
Der größere Schanzenturm, die höheren Geschwindigkeiten bei der längeren Anfahrt, der höhere Absprung, der deutlich längere Flug – all das fasziniert Männer wie Frauen gleichermaßen. „Skifliegen ist wirklich eine andere Hausnummer. Das schlaucht extrem“, sagte Eisenbichler. Er wird auf dieses unvergleichliche Gefühl in diesem Winter verzichten müssen.